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It- und Engineering-Tagung 2022 Service aktuell

Engineering- und IT-Tagung 2022: Die Zukunft ist offen – und gestaltbar

Der Ort der ersten Engineering- und IT-Tagung seit drei Jahren in voller Präsenz war wie geschaffen für eine innovative Debatte: Das Audi-Gelände in Ingolstadt, wo 2026 das letzte Auto mit Verbrennungsmotor vom Band fahren soll.

[22.09.2022]

Von Jeannette Goddar

Der Mensch will sich bewegen, das wird auch in einer heißer werdenden Welt so bleiben. Doch wie soll das aussehen, in einer Zeit, in der auch der Letzte verstanden haben sollte, dass eine Verkehrs- wie Antriebswende überfällig ist? In selbstfahrenden Autos; mit Zügen, die halbstündlich und bezahlbar mit grünem Strom fahren? Geht es künftig mit der Elektro-Solarfähre in den Urlaub im kühlen Norden, oder gar in einem mit Wasserstoff betankten Flugzeug? Auch letzteres soll nach Ansicht von Thomas Pretzl, Gesamtbetriebsratsvorsitzender von Airbus Defence and Space, möglich werden. „Greta Thunberg muss bei uns einsteigen können, und sagen, das ist ok“, beschrieb er diese Vision bei der Engineering- und IT-Tagung Ingolstadt. Gewagt, wie sie war, wurde sie prompt mit einem lauten „Halali“ quittiert.

Es ging wieder einmal hoch her beim Spitzentreffen der Engineering- und IT-Experten, bei dem seit 2008 die Zukunft zu drängenden Themen vorausgedacht wird, zu Kreislaufwirtschaft wie zu Crowdwork, zu agiler Arbeit wie zu klimafreundlichem Vorankommen. Fragt man Claudia Bogedan, warum sich die Hans-Böckler-Stiftung mit der IG Metall immer wieder mit Hunderten Menschen in einen Industriekonzern irgendwo in Deutschland aufmacht, um im Kleinen wie im Großen Trends aufzuspüren: „Vor Ort genau hinzuschauen, bis in die technologischen Details, ist ein idealer Weg, um vor den Wind zu kommen“, erklärte die Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung. „Wir müssen verstehen, was der Wandel für Beschäftigte heißt, um allen passende Angebote zu machen.“

In Ingolstadt wurde deutlich: An den Ingenieuren und Entwicklern, den Betriebsräten und Gewerkschaftern muss die Wende nicht scheitern. Für die Straße wie für die Schiene, für die See- wie für die Luftfahrt wird an Antrieben und Innovationen gearbeitet, die über die politisch geförderten oft hinaus gehen. Auch Fragen einer vernetzten Mobilität in Zeiten von 5G und 6G sind längst im Blick. Als beeindruckendes Beispiel stellten mehrere Mitarbeiter die VW-Tochtergesellschaft Cariad SE vor, in der 5000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an Software-Lösungen für alle Automarken unter dem VW-Dach arbeiten. Ein Benchmark nicht nur in der IT-Branche, nannte das Gerhard Retzer, stellvertretender Vorsitzende des Cariad SE-Gesamtbetriebsrats: „Auch in der Mitbestimmung arbeiten wir an Lösungen, die den Beschäftigten in Deutschland ebenso wie jenen in Indien gerecht werden.“

Anders als mitbestimmt ist die Zukunft nicht zu wuppen, das machte Christiane Benner klar: „Die IG Metall bekennt sich klar zu den Klimazielen“, so die Zweite Vorsitzende der weltweit größten Einzelgewerkschaft, „wir können die Beteiligung für den ökologischen Umbau der Mobilitätsysteme organisieren.“ Doch dazu brauche es Arbeit, die „mitbestimmt, gut bezahlt und sinnstiftend ist – und ein Betriebsverfassungsgesetz, das dem gerecht wird.“ Von der Politik mahnte Benner – wie im Koalitionsvertrag vereinbart – ein weit stärkeres Engagement an. Angesichts von 21 Fahrzeugen, die sich zurzeit eine Ladesäule teilen müssen, sei völlig unklar, wie bis 2030 die angepeilten 15 Millionen E-Autos auf deutschen Straßen unterwegs sein sollten: „Die Unternehmen brauchen Planbarkeit für Investitionen und Infrastruktur für grüne Energien“, so Benner. Peter Mosch, Vorsitzender des Gesamtbetriebsrats und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der gastgebenden Audi AG, stieß in dasselbe Horn: „Die Arbeitnehmer müssen sich auf die politischen Entscheider verlassen können“.  Mosch forderte zudem Technologieoffenheit, also auch weiterhin in Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe zu investieren: „Keiner von uns weiß, was in 15, 20 Jahren ist.“

Der aus dem Bundesministerium für Verkehr und Digitalisierung angereiste Abteilungsleiter Kommunikation, Hartfrid Wolff, versicherte: „Wir wollen in der Breite der Technologien vorankommen.“ Allerdings habe der 24. Februar – der Tag der russischen Invasion in die Ukraine – vieles „durcheinandergewirbelt“. Der im Juli vorgelegte „Masterplan Ladeinfrastruktur“ sei aber dessen ungeachtet in der Umsetzung. Dass darin längst nicht an alle gedacht ist, zeigte der Inklusionsexperte Raúl Aguayo-Krauthausen mit Bildern von Ladesäulen, die auf ihren extra hohen Bordsteinen für Menschen im Rollstuhl unerreichbar sind. „Deutschland hat sich zu Inklusion und Barrierefreiheit verpflichtet“, sagte Aguayo-Krauthausen, „das gilt auch für Elektroladesäulen.“ Der Bahnindustrie-Beauftragte im IG-Metall-Vorstand Thomas Kalkbrenner machte auf eine weitere Riesenbaustelle aufmerksam: auf einen Sanierungsrückstand im Bahninfrastrukturbereich in Höhe von 70 Milliarden Euro. Für die Bahnindustrie, mit der direkt oder indirekt immerhin 165000 Menschen in 1000 Unternehmen verknüpft sind, gelte: „Technologisch gehören wir zur Weltspitze. In unserem eigenen Land erleben wir ein desaströses Bahnsystem.“

Doch wollen die Menschen überhaupt in die Bahn? Das Neun-Euro-Ticket, darüber war man sich einig, zeigte zwar immensen Bedarf an bezahlbarer Mobilität, holte aber kaum jemanden aus dem Auto. Jens Schippl, Mobilitätsexperte beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) entwarf ein gemischtes Bild. Einerseits gehe unter „bestimmten Gruppen von jungen Erwachsenen“ das Interesse am eigenen Auto zurück. Zugleich sei die Zahl der Car-Sharing-Nutzer verglichen mit 47 Millionen Privat-Autos verschwindend gering, öffentliche Verkehrsmittel die unbeliebteste Art der Fortbewegung. Schippls Resümee: „Die Zukunft ist offen – und gestaltbar.“ Ralph Obermauer, Leiter der Stabsstelle Mobilität und Fahrzeugbau im IG-Metall-Vorstand, nannte eine Halbierung der Autos ein „unrealistisches Ziel“, und „aus Sicht der IG Metall auch nicht zu unterstützen“. Der „wichtigste und größte Hebel für eine Co2-Reduktion“ seien neue Antriebe von Pkw und Lkw – ein Statement, das unter dem Motto Antriebs- oder Verkehrswende während der gesamten Tagung immer wieder und kontrovers diskutiert wurde.

Die Herausforderungen sind groß, der Bedarf an Weiterbildung immens, die Jobchancen für künftige Generationen, gute Bildung vorausgesetzt, nahezu unendlich. „Früher hatten wir in der Krise Massenentlassungen, bei Corona nicht: Es ist einfach so knapp, dass man niemanden mehr gehen lässt“, konstatierte Enzo Weber, Forschungsbereichsleiter Prognosen und gesamtwirtschaftliche Entwicklung beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In Zukunftsberufen wie Klima- und Energietechnik – aber auch in Gesundheitsberufen und anderswo – schlage der Personalmangel schon heute voll durch. Insofern werde es für einzelne Industrien herausfordernd, doch ganze Regionen werde es nicht herunterziehen: „Dafür sind die Chancen zu groß.“ Audi-Arbeitsdirektor Xavier Ros Hernández berichtete dazu passend, zwar hätten in diesem Jahr 700 junge Menschen in Ingolstadt und Neckarsulm eine Ausbildung begonnen: „Doch früher gab es viel mehr Bewerber.“ Für die Arbeitgeber heiße das: „Wir müssen eine Perspektive für eine wirkliche Entwicklung anbieten.“

Die Böckler-Stiftung führte den talentierten Nachwuchs auf ihre Art in die Präsenz zurück: 15 Stipendiatinnen und Stipendiaten aus den Ingenieurswissenschaften waren in Ingolstadt dabei. „Mischt euch unter die Leute, mischt euch ein“, forderte Claudia Bogedan sie auf und kündigte an, sie künftig noch stärker in die Tagung einzubeziehen.

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