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Illustration Leben und Arbeit in Europa (Symbolbild) Magazin Mitbestimmung

Europas Beitrag: WAS EIN GEMEINSAMES EUROPA BRINGT

Ausgabe 02/2024

Im Juni wählen die Menschen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein neues Parlament. Wer zukünftig in Europa bestimmt und wohin es sich politisch entwickelt, ist gerade für Beschäftigte von Bedeutung. Vier Stimmen aus der Hans-Böckler-Stiftung.

  • Fotocollage Ernesto Klengel, HSI-Direktor

Die EU ist zu wichtig geworden, um sie in der Sozialpolitik zu ignorieren."

ERNESTO KLENGEL, Direktor des Hugo Sinzheimer Instituts der Hans-Böckler-Stiftung

Die Europawahlen stehen bevor – und damit die Zeit, in der viel über die kleinen und großen Vorteile gesprochen wird, die die EU für unser Leben so mit sich bringt: Reisen ohne Grenzkontrollen? Im Urlaub bezahlen, ohne in der Wechselstube übers Ohr gehauen zu werden? Endlich einheitliche Ladekabel für alle elektronischen Geräte? Die EU macht es möglich.

Um Soziales geht es dabei eher selten, und das liegt daran, dass die soziale Dimension der EU eine vertrackte Angelegenheit ist. Doch es gibt auch sie, die Momente, in denen sehr klar wird, dass die Europäische Union eine ganze Menge damit zu tun hat, wie wir arbeiten, wirtschaften und leben.

Als im Jahr 2023 zahlreiche Trucker wochenlang auf der Autobahnraststätte Gräfenhausen protestierten beispielsweise. Sie sind es, die den grenzüberschreitenden Warenverkehr abwickeln, eine wichtige Säule des europäischen Binnenmarkts. Sie kommen aus Usbekistan oder Georgien, und werden von ihren Arbeitgebern, großen osteuropäischen Logistikunternehmen, um ihren Lohn betrogen. Ihre Arbeitsbedingungen sind katastrophal. Dabei gelten für sie eigentlich neue EU-Vorschriften. Doch diese sind so kompliziert, dass sie in der Praxis kaum überwacht werden.

Die andere Geschichte, die Europa derzeit schreibt, ist die des Motors einer Reihe fortschrittlicher Regeln für die Arbeitswelt. Die Union möchte sich vom Ruf einer technokratischen Behörde befreien und ein soziales Antlitz gewinnen. An Zeiten, in denen die Troika mit EU-Institutionen südeuropäische Staaten zwang, Arbeitsmärkte zu flexibilisieren und die Macht der Gewerkschaften zu begrenzen, möchte niemand erinnern. Ob Arbeitszeiterfassung oder bessere Regeln für die prekäre Arbeit von Essenslieferantinnen und anderen Plattformbeschäftigten, ob Grenzen für die algorithmische Steuerung des Arbeitsalltags, eine moderate Stärkung der Europäischen Betriebsräte oder der Schutz von Menschenrechten in der Lieferkette: der sozialpolitische Richtungswechsel hat es in sich. Sogar juristische Bedenken wurden beiseite gewischt, um eine Richtlinie zur Stärkung der Mindestlöhne in Kraft zu setzen – einschließlich einer Stärkung von Tarifverträgen in den Mitgliedstaaten.

Doch auch hier sind die Schatten der Vergangenheit spürbar. Ausgerechnet die wohlfahrtsstaatlichen skandinavischen Länder wehren sich gegen die Mindestlohnrichtlinie, allen voran die dortigen Gewerkschaften. Es sind die Spätwirkungen der EuGH-Entscheidungen zu Viking und Laval aus dem Jahr 2007, in denen die Standards der nordischen Sozialmodelle infrage gestellt wurden.

Ob die Trucker in Gräfenhausen oder die Mindestlohnrichtlinie: Die Europäische Union hat noch viel Arbeit vor sich, wenn es darum geht, sozialpolitisches Vertrauen aufzubauen. Doch wenn es um gute Arbeitsbedingungen geht und die Möglichkeiten, am Arbeitsplatz mitzubestimmen, ist sie viel zu wichtig, um sie zu ignorieren.

  • Fotocollage WSI-Direktorin Bettina Kohlrausch

Die Mindestlohnrichtlinie ist wegweisend für die Diskussion in Deutschland."

BETTINA KOHLRAUSCH, Direktorin des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI)

Die europäische Mindestlohnrichtlinie stellt klar: Erwerbsarbeit muss gesellschaftliche Teilhabe für alle garantieren. Damit setzt sie auch Standards für die deutsche Debatte. Denn die Mitgliedstaaten sind verbindlich verpflichtet, sie bis spätestens 2025 in nationales Recht umzusetzen.

Um angemessene Mindestlöhne zu erreichen, nennt die Richtlinie unter anderem zwei Faktoren, die auch für die deutsche Arbeitsmarktpolitik zentral sind: die Höhe der Tarifbindung und die Höhe des Mindestlohns. So unterstreicht sie den Zusammenhang zwischen einer hohen Tarifbindung und höheren Mindestlöhnen sowie einer geringeren Lohnungleichheit. Länder, deren Tarifbindung nicht bei mindestens 80 Prozent liegt, müssen darlegen, wie sie die Tarifbindung schrittweise erhöhen. Darin spiegelt sich eine durchweg positive Sicht auf die Tarifbindung wider. Sie wird als wichtiges verteilungspolitisches Instrument verstanden, um Lohnungleichheit, einem zentralen Merkmal sozialer Ungleichheit, entgegenzuwirken. Der WSI-Verteilungsbericht belegt jedes Jahr aufs Neue, wie groß die Einkommensungleichheit in Deutschland ist. Die europäische Mindestlohnrichtlinie stärkt damit den Gewerkschaften im Kampf um eine höhere Tarifbindung den Rücken.

Auch im Hinblick auf die Debatte über die Höhe des Mindestlohns ist die Richtlinie wegweisend für die deutsche Diskussion. Die Richtlinie verpflichtet die Länder der EU, klar definierte Kriterien für einen angemessenen Lohn festzuschreiben. Auch wenn sie dies nicht verbindlich vorschreibt, verweist sie in diesem Kontext explizit auf Referenzwerte wie „60 Prozent des Bruttomedianlohns“. Eine solche Definition der Lohnuntergrenze stellt das Konzept gesellschaftlicher Teilhabe in den Mittelpunkt. Teilhabe definiert sich nicht über die Erfüllung minimaler Grundbedürfnisse, sondern über den jeweiligen Lebensstandard einer Gesellschaft. Daher ist es sinnvoll, die Lohnuntergrenze am mittleren Einkommen eines Landes zu orientieren. Dies steht allerdings im krassen Gegensatz zum Vorgehen der deutschen Mindestlohnkommission, die für das Jahr 2024 gegen die Stimmen der Gewerkschaften nur eine minimale Erhöhung des Mindestlohns von 41 Cent festgelegt hat.

Vor dem Hintergrund der hohen Belastung der unteren Einkommen und der in der Richtlinie festgelegten Kriterien eines angemessenen Mindestlohns stellt sich in Deutschland die Frage nach funktionierenden Mechanismen, um einen Mindestlohn sicherzustellen, der gesellschaftliche Teilhabe garantiert, zunehmend drängender. Es gibt in Sachen Mindestlohn für die deutschen Gewerkschaften viel zu tun – immerhin mit Rückenwind aus Europa.

  • Fotocollage IMU-Direktor Daniel Hay

Das SAP-Urteil des Europäischen Gerichtshofes hat die Mitbestimmung gestärkt."

DANIEL HAY, Direktor des Instituts für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.)

Es ist noch nicht allzu lange her, da erreichte mich eine SMS, die mich nach vielen Jahren intensiver Arbeit aufatmen ließ. Ein langjähriger Weggefährte und Mitstreiter in der Sache, der selbst gespannt auf die Nachricht gewartet hatte, teilte mir mit, dass wir es geschafft haben: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hatte in unserem Sinne entschieden! Im Oktober 2022 hatte der EuGH nach acht Jahren endlich Klarheit in eine zentrale Frage der Mitbestimmung innerhalb der europäischen Gesetzgebung gebracht. Das Softwareunternehmen SAP hatte sich 2014 von einer deutschen Aktiengesellschaft in eine Societas Europaea (SE), also eine europäische Aktiengesellschaft, umgewandelt. Der neue Aufsichtsrat der SAP SE sollte verkleinert werden, und in diesem Zuge sollte der gesonderte Wahlgang für die Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften entfallen.

Das hätte in der Praxis den Wegfall ihrer Repräsentanz im Aufsichtsrat des Unternehmens bedeutet. Zu Unrecht, entschied der EuGH und bestätigte damit die Auffassung der Gewerkschaften IG Metall und Verdi. Der EuGH machte deutlich, dass die prägenden Elemente der nationalen Mitbestimmung auch bei einer Umwandlung in eine SE erhalten bleiben müssen und die Sitze für Gewerkschaften in einem mitbestimmten Aufsichtsrat in Deutschland als solche prägend sind.

Diese Entscheidung war deswegen so wichtig, weil die europäische Rechtsform SE seit ihrer Einführung vor über 20 Jahren vor allem oder nahezu ausschließlich in Deutschland zur Mitbestimmungsvermeidung genutzt wird. Von 122 deutschen SE, die aufgrund ihrer Größe mit mehr als 2000 Beschäftigten in Deutschland eigentlich paritätisch mitbestimmt sein müssten, sind es tatsächlich nur 19.

Gut gedacht ist eben nicht immer gut gemacht. Es darf nicht sein, dass europäische Regularien die Umgehung oder Abschwächung deutscher Mitbestimmungsrechte ermöglichen. Das sieht glücklicherweise auch der Europäische Gerichtshof so und hat das entsprechend klargestellt. Das ist auch deswegen von Bedeutung, weil die EU und ihre mitbestimmungspolitische Gesetzgebung vor allem darauf abzielen muss, Standards zu setzen und Solidarität zwischen den Menschen in den Mitgliedstaaten zu schaffen. Aus meiner eigenen Mitbestimmungspraxis weiß ich sehr genau, welche Bereicherung etwa der Europäische Betriebsrat (EBR) für den demokratischen Zusammenhalt in allen Mitgliedstaaten ist. Er ist unser Instrument, um den eigenen Horizont zu erweitern, unterschiedliche Kulturen der Mitbestimmung kennenzulernen und zu fragen, warum sie so sind, wie sie sind.

Sich in Europa nicht gegeneinander ausspielen zu lassen, ist keine bloße Plattitüde. Im Aufsichtsrat ist es ein entscheidender Mehrwert, persönliche Kontakte in die von Entscheidungen betroffenen Länder zu haben, um ungefilterte Informationen einzuholen und mit den Beschäftigten vor Ort zu sprechen und gemeinsam nach Lösungen zu suchen.

Die EU hat mit den Europäischen Betriebsräten eine starke Ergänzung des Mitbestimmungssystems geschaffen, das den Zusammenhalt zwischen den Beschäftigten in Europa sichert. Insofern ist die laufende Revision der EBR-Richtlinie der richtige Schritt, um die demokratische Beteiligung der Beschäftigten in Europa zu fördern.

  • Fotocollage IMK-Direktor Sebastian Dullien

Binnenmarkt und Euro haben Löhne und Sozialstandards gesichert."

SEBASTIAN DULLIEN, Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK)

Gerne wird der Europäischen Union die Schuld zugeschrieben, wenn etwas nicht so gut funktioniert – sei es unregulierte Zuwanderung oder das Unterlaufen von Sozialstandards. Dabei haben die Jahre seit dem Ausbruch der Covidpandemie gezeigt, wie wichtig die EU für unseren Wohlstand und unsere Lebensweise ist.

Aus gesamtwirtschaftlicher Sicht sind dabei zwei Elemente zentral: der Binnenmarkt und der Euro. Wenngleich von Kritikern gelegentlich als „neoliberale Projekte“ gebrandmarkt, sind es der gemeinsame Markt und die gemeinsame Währung, die uns helfen, hohe Löhne sowie hohe Sozial- und Umweltstandards zu verteidigen.

Der Binnenmarkt erlaubt, innerhalb Europas von den unterschiedlichen Stärken der Mitgliedstaaten zu profitieren. Deutschlands Autobauer etwa konnten so über Jahrzehnte weniger komplexe Teile in EU-Ländern mit niedrigeren Lohnkosten herstellen lassen und sich in Deutschland auf Produktionsschritte mit hoher Wertschöpfung und dem Potenzial für hohe Löhne konzentrieren. Das hat Jobs und Wohlstand bei uns und in den Partnerländern gesichert.

Lieferketten innerhalb Europas haben sich dabei als um ein Vielfaches stabiler herausgestellt als jene etwa mit China. Als in der Covidpandemie kurzzeitig die Produktion von Autoteilen in Italien eingestellt wurde, musste zwar auch die Herstellung in Deutschland gedrosselt werden, aber nach Hochlaufen der Bänder in Norditalien liefen schnell auch die deutschen Werke wieder. Lieferungen aus Asien hingegen waren nicht nur von den Lockdowns dort, sondern auch von Störungen in Häfen oder blockierten Seewegen über mehrere Jahre beeinträchtigt.

Der Binnenmarkt erlaubt Europa auch, schärfere Standards etwa bei Arbeitsrechten oder Umweltstandards durchzusetzen. Die EU kann solche Standards zur Bedingung für Freihandelsabkommen machen, weil sie einen so großen und attraktiven Markt hat. Kein einzelnes europäisches Land, auch nicht Deutschland, hätte auf globaler Ebene solch ein Gewicht. Standards, die Europa für den eigenen Binnenmarkt setzt, werden nicht selten für die Produktion in anderen Ländern übernommen, weil es sich im Ausland oft einfach nicht lohnt, einmal für die EU und einmal für den Rest der Welt zu produzieren.

Und der Euro hat in der Covidpandemie entscheidend für makroökonomische Stabilität gesorgt. In anderen Regionen der Welt kam es zu wilden Schwankungen der Wechselkurse. Inflationsraten schossen in die Höhe, und fast 100 Länder mussten sich für Nothilfen an den Internationalen Währungsfonds wenden. Nicht so bei uns: Der Euro blieb stabil. Wie die 1980er und 1990er Jahre gezeigt haben, waren wilde Schwankungen im Wechselkurs innerhalb Europas immer auch zum Nachteil der deutschen Wirtschaft: Aufwertungen der Deutschen Mark haben damals regelmäßig hart erarbeitete Wettbewerbsvorteile zunichte gemacht und die Nachfrage in wichtigen Absatzmärkten gedämpft. All dies hat fast bilderbuchartig der Euro verhindert.

Natürlich läuft auch wirtschaftspolitisch auf EU-Ebene nicht immer alles rund. Insgesamt nutzt die EU ihren Einfluss nicht immer ausreichend und zielgerichtet. So würde sich der Binnenmarkt ideal eignen, um eine gezielte Industriepolitik für Zukunftstechnologien wie Halbleiter und erneuerbare Energien umzusetzen. Bisher passiert das leider nicht, stattdessen arbeitet jedes Mitgliedsland an einer eigenen Industriestrategie. Aber das ist kein Grund, sich von Europa abzuwenden, im Gegenteil: Die Europawahl ist die Gelegenheit, um die Voraussetzung für eine verbesserte Politik in Europa zu legen.

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