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Sebastian Sick Magazin Mitbestimmung

Recht: „Wir bekommen einen Schweizer Käse“

Ausgabe 03/2021

Aufsichtsrats-Experte Sebastian Sick erklärt, wie es vielen Unternehmen gelingt, geltende Gesetzgebung zur Mitbestimmung zu umgehen – und was dagegen getan werden muss. Das Gespräch führte Kay Meiners.

Das Mitbestimmungsgesetz von 1976 soll für alle Kapitalgesellschaften ab 2000 Beschäftigten gelten. Offenkundig gibt es aber Schlupflöcher. Welche sind das?

Zahlreiche Unternehmen nutzen europäische Rechtsformen, um das deutsche Recht zu umgehen. Das ist besonders für die Zukunft gefährlich. Andere Unternehmen arbeiten mit Stiftungskonstruktionen – oder ignorieren einfach die gesetzlichen Vorgaben.

Über welche Dimension reden wir?

Die Lage für die Unternehmensmitbestimmung ist sehr ernst. Gäbe es keine Lücken, hätten wir rund 1000 paritätisch mitbestimmte Unternehmen. Aber im vergangenen Jahr haben wir 307 Unternehmen mit jeweils mehr als 2000 Beschäftigten identifiziert, die das Gesetz umgehen oder ignorieren – dort arbeiten insgesamt mehr als zwei Millionen Beschäftigte.

Was ist das Problem bei europäischen Rechtsformen?

Fälle, die mit der Europäischen Aktiengesellschaft, der SE, und mit ausländischen Rechtsformen zu tun haben, sind für die meisten Vermeidungsfälle verantwortlich. Bei der SE ist das große Problem, dass die Mitbestimmung eingefroren wird, wenn die SE entsteht. Wird sie mit nicht mehr als 500 oder nicht mehr als 2000 Beschäftigten gegründet, wächst die Mitbestimmung später nicht mehr mit.

Betrifft das bekannte Unternehmen?

Die Wohnungsbaugesellschaft LEG, früher ein Landesunternehmen, jetzt eine börsennotierte, investorengetriebene Gesellschaft und DAX-­Aspirant, hat sich in eine SE umgewandelt – ein Unternehmen, das ausschließlich in Deutschland Beschäftigte hat. Nur zum Zweck der SE-Gründung wurde eine arbeitnehmerlose Gesellschaft in Luxemburg erschaffen. Obendrein betreibt die LEG Tarifflucht.

Wie viele Menschen arbeiten für die LEG?

Aktuell hat sie rund 1600 Beschäftigte, liegt also noch unter der Schwelle von 2000. Aber zwei DAX-Unternehmen der Branche, Vonovia, mit mehr als 8000 Inlandsbeschäftigten, und die Deutsche Wohnen, mit um die 6000 Beschäftigten, operieren ähnlich. So etwas ist skandalös – erst recht angesichts der sozialen Fragen auf dem Wohnungsmarkt. Vonovia will nun die Deutsche Wohnen übernehmen und damit noch größer werden.

Kann man auch direkt auf ausländische Rechtsformen ausweichen, wenn man Mitbestimmung verhindern will?

Selbst das geht. Die Holding des Schlachtereikonzerns Tönnies ist eine dänische ApS und Co. KG. Die ApS ist in etwa vergleichbar mit einer deutschen GmbH, aber ihre Leitungsorgane sind mitbestimmungsfrei.

Stiftungskonstruktionen erfüllen offenbar den gleichen Zweck. Welche Firmen nutzen sie?

Die Discounter Aldi sowie Lidl und Kaufland, die sogenannte Schwarz-Gruppe, sind bekannt dafür, sie stehen einander in nichts nach. In beiden Fällen verhindern Stiftungskonstruktionen die Mitbestimmung: die Siepmann-Stiftung bei Aldi Süd, die Markus-Stiftung bei Aldi Nord. Das sind Unternehmensgruppen mit sehr vielen Beschäftigten.

Wie kann das sein, dass Lidl, ein Großkonzern mit großer Marktmacht und über 80 000 Mit­arbeitern in Deutschland, damit durchkommt?

Mitbestimmungsfreie Stiftungen oder eine Stiftung & Co. KG einzusetzen ist nicht ungesetzlich. Hier wird zum Problem, dass unsere Mitbestimmungsgesetze auf bestimmte Rechtsformen wie die Aktiengesellschaft abstellen. Sie müssten aber in allen gewinnorientierten Unternehmen greifen. Sowohl bei Aldi als auch bei Lidl haben wir es mit Vermeidungskonstruktionen und Desintegrationsstrategien zu tun, die im auch in den jeweiligen Regionalgesellschaften die Arbeitnehmerbeteiligung verhindern.

Die korrekte Anwendung der Mitbestimmungsgesetze sollte als Voraussetzung für eine Börsennotierung und die Teilnahme am Kapitalmarkt eingeführt werden."

Sebastian Sick, Referatsleiter Unternehmensrecht und Corporate Governance im Institut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung

Wie genau wird das gemacht?

Im Kern geht es darum, dass ein großer Konzern auf dem Papier und viele kleine Firmen aufgeteilt wird. Aldi und Lidl sind Beispiele dafür , wie es in solchen Fällen läuft: eine Vielzahl eigenständiger Konzerngesellschaften, die immer unter dem Schwellenwert von 500 Mitarbeitern bleiben. So gilt nicht einmal das Drittelbeteiligungsgesetz. Häufig werden verschiedene Vermeidungsstrategien gemischt, was die Verhältnisse noch komplizierter macht.

Bei Aldi gibt es mittlerweile auch SE-Modelle – für einzelne Regionalgesellschaften, die der Mitbestimmung bei einem Zuwachs der Mitarbeiterzahl über 2000 hinaus vorbeugen. Dieses SE-Modell scheint übrigens auch das neue Tesla-Werk in Brandenburg zu nutzen, um sich der Sozialpartnerschaft trotz allem staatlichen Entgegenkommen zu entziehen.

Andere Unternehmen ignorieren die Gesetze lieber, als solche komplizierten Konstruktionen zu errichten. Wie viele sind das?

Bei der letzten Zählung waren unter den mindestens 307 Unternehmen, die paritätisch mitbestimmt sein müssten, es aber nicht sind, 113 illegale Ignorierer – darunter große Unternehmen wie die Drogeriekette Rossmann, die Billig-Kette Kodi, mehrere Edeka-Regionalgesellschaften, die Biomarkt-Gruppe Dennree und auch große Pflegeheimbetreiber.

Diese Zahl bezieht sich nur auf das Mitbestimmungsgesetz von 1976. Wie sieht es beim Drittelbeteiligungsgesetz aus?

Hier kommen Hunderte weiterer Firmen mit mehr als 500 Beschäftigten hinzu, die die geltenden Vorschriften umgehen oder ignorieren.

Wie kommen diese hohen Zahlen bei der Drittelbeteiligung zustande?

Die Umgehung ist leicht, denn es gibt eine Gesetzeslücke bei der Konzernzurechnung: Es werden nicht alle Tochterunternehmen mitgezählt, um den Schwellenwert von 500 Beschäftigten zu überschreiten, sondern nur diejenigen, die über Beherrschungsverträge mit dem Unternehmen verbunden sind. Das ist der Grund, warum es beim insolventen Zahlungsabwickler Wirecard nicht einmal eine Drittelbeteiligung gab. Bei der Insolvenz hatte Wirecard konzernweit über 1900 Beschäftigte in Deutschland, aber keine Tochter hatte mehr als 500 Beschäftigte. Die maßgeblichen Beherrschungsverträge waren rechtzeitig gekündigt worden.

Warum gibt es keine harten Sanktionen?

Je mehr legale Vermeidungsstrategien es gibt, desto leichter ist es, das Gesetz ganz zu ignorieren. Die Unternehmen haben ein gewisses Erpressungspotenzial. Wenn die Arbeitnehmer oder die Gewerkschaft die Mitbestimmung durchsetzen wollen, drohen die Arbeitgeber, in eine andere Rechtsform zu wechseln. Die Mitbestimmung einführen kann die Arbeitnehmerseite nur durch ein gerichtliches Statusverfahren, das die Gewerkschaften oder die Betriebsräte einleiten.

Worauf kommt es letztlich an?

Alle Beschäftigten in Unternehmen einer bestimmten Größenklasse müssen das Recht auf Mitbestimmung im Leitungsorgan haben, um bei wirtschaftlichen und strategischen Entscheidungen mitzustimmen – unabhängig von der Rechtsform.

Wie kann man die Gesetze besser durchsetzen?

Wir brauchen bessere Sanktionsmöglichkeiten. Zum Beispiel wäre eine gesetzliche Regelung zu erwägen, die Abschlussprüfer verpflichtet, das rechtswidrige Ignorieren der Mitbestimmung gegenüber einer geeigneten staatlichen Stelle zu melden. Auch Geldbußen, die sich am Umsatz orientieren, können ein Instrument sein. Als Konsequenz aus dem Kon­trollversagen bei Wirecard sollte die korrekte Anwendung der Mitbestimmungsgesetze als Voraussetzung für eine Börsennotierung und die Teilnahme am Kapitalmarkt eingeführt werden.

Was muss sich noch ändern?

Wir brauchen – siehe das Beispiel Tönnies – ein Gesetz, das ausländische Rechtsformen in die Mitbestimmung einbezieht. Außerdem muss auch bei der SE die Mitbestimmung mitwachsen, wenn die Beschäftigtenzahl wächst. Und die Gesetze zur Drittelbeteiligung müssen an das Mitbestimmungsgesetz von 1976 angeglichen werden, damit Beschäftigte von Tochterunternehmen in vollem Umfang konzernweit mitzählen. Dazu gehört, dass die GmbH & Co. KGs lückenlos einbezogen werden.

Wird das im Wahljahr eine Rolle spielen?

Wir werden es zum Thema machen. Zum einen haben wir eine Diskussion darüber angestoßen, wie sich die Mitbestimmung qualitativ verändern muss: Ist das Doppelstimmrecht des Aufsichtsratsvorsitzenden in dieser Form noch zeitgemäß? Bekommen die Investoren zu viel Macht? Wo wird die Vorstandsvergütung ausgehandelt? Aber mindestens genauso wichtig ist es, etwas gegen die schleichende Erosion dessen zu tun, was schon gilt. Nach 15 Jahren Stillstand beim Thema Mitbestimmung brauchen wir den politischen Willen, die Lücken zu schließen. Sonst bekommen wir einen Schweizer Käse.

Welche Parteien werden sich dafür einsetzen?

Die Grünen haben eine interessante Gesetzesinitiative eingebracht, an die sie sich hoffentlich nach der Wahl noch erinnern. Aber auch die SPD und die Linke haben schon Vorstöße gemacht.


Sebastian Sick leitet das Referat Unternehmensrecht und Corporate Governance im In­stitut für Mitbestimmung und Unternehmensführung (I.M.U.) der Hans-Böckler-Stiftung und berät Arbeitnehmervertreter in Aufsichtsräten. Er ist Mitglied der Regierungskommission Deutscher Corporate Governance Kodex, die Empfehlungen und Anregungen für börsennotierte Unternehmen zur guten Unternehmensführung erarbeitet.

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