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Betriebsvereinbarungen

Arbeitszeitkonten in Deutschland und Frankreich

Arbeitszeitkonten in Deutschland und Frankreich unterscheiden sich spürbar in ihren Regelungsstrukturen und ihrer Praxis. Dieses Projekt zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede auf, bietet Erklärungsansätze und untersucht die Zeitautonomie der Beschäftigten.

Ein Vergleich von deutschen und französischen Betriebsvereinbarungen

Arbeitszeitkonten werden in Deutschland und Frankreich als Instrumente der Zeitflexibilität genutzt. International vergleichende Forschungen haben sich mit diesem Thema kaum beschäftigt. Die vergleichende Analyse von insgesamt mehr als 1500 Betriebsvereinbarungen in Deutschland und Frankreich zeigt zwei sehr unterschiedliche Kontentypen in beiden Ländern.

Deutschland: ein „Girokonto“

Die Arbeitszeitkonten in Deutschland lassen sich mit Girokonten vergleichen. Sie sind für die Arbeitnehmenden verbindlich, sobald eine Betriebsvereinbarung ausgehandelt ist. Ohne Wahlmöglichkeit erfolgt die Eröffnung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter automatisch. Die Konten dienen der Anpassung von Produktion und Dienstleistungen, aber auch sozialen Zeiten und der Zeitautonomie. Sie sind fast ausschließlich für das Ansparen und den Verbrauch von Zeit reserviert. Transfers zwischen Zeit und Geld sind, anders als in Frankreich, selten. Die Konten sind eher kurzfristig und erlauben nur relativ geringe Zeitguthaben bzw. Zeitschulden. Die maximal möglichen Guthaben übersteigen selten die Ersparnisse eines Monats und werden kontrolliert. Diese „Girokonten“ erlauben auch Zeitschulden der Beschäftigten („zinslose Überziehungskredite“). Die meisten Regeln in den Betriebsvereinbarungen dienen zur Steuerung der Salden. Die Arbeitszeitkonten sind selten gegen Insolvenz versichert und können nicht zwischen Unternehmen übertragen werden. Die Guthaben werden nicht verzinst.

Frankreich: ein „Sparkonto“

Das französische Arbeitszeitkonto ähnelt einem traditionellen Sparkonto oder einer mehrjährigen Lebensversicherung. Es handelt sich um ein individuelles Konto: Der potenzielle Eigentümer hat die Möglichkeit, es zu eröffnen oder nicht. Die Konten erlauben hohe Volumina und lange Laufzeiten. Gleichzeitig fördern diese Konten in einem begrenzten Umfang die Verlängerung der täglichen/wöchentlichen Arbeitszeit, auch kurzfristige Auszeiten oder zusätzliche Einkommen sind möglich. Die wichtigsten Regeln der Betriebsvereinbarungen gelten den Zeitarten, die angespart und genutzt werden können (gesetzlicher Urlaub, Ruhezeiten, Arbeitszeitverkürzungstage usw.). Diese Konten werden regelmäßig mit zeitlichen oder monetären Elementen von Arbeitnehmern aufgefüllt. Sie lassen aber kein Defizit (Überziehungskredit) zu. Dieses Sparkonto ist gegen Unternehmensinsolvenz geschützt (durch die allgemeine Arbeitgeberversicherung) und kann in einigen Fällen zwischen Unternehmen übertragen werden (Portabilität).

Study 461 - Cover

[Study] Timo Giotto, Hartmut Seifert, Jens Thoemmes (2021): Regelungsstrukturen und Praxis von Arbeitszeitkonten in Deutschland und Frankreich

Praxiswissen Betriebsvereinbarungen

Reihe: Study der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 461
Düsseldorf, ISBN: 978-3-86593-375-1, 84 Seiten

Ansprechpartnerin: Sandra Mierich

Bestätigung und Nuancierung der Unterschiede in der Praxis 

Insgesamt acht Fallstudien von Betrieben in Deutschland und Frankreich bilden die Grundlage dieser Analyse. Die in der quantitativen Analyse der Betriebsvereinbarungen aufgezeigte „Begrenzung“ der deutschen Arbeitszeitkonten und die sehr umfassenden (multifunktionalen) französischen Arbeitszeitkonten werden durch unsere in Betrieben verschiedener Wirtschaftszweige beider Länder durchgeführten Fallstudien bestätigt und differenzierend ergänzt. Sie zeigen: Eher kurzfristige Konten mit kleinen Volumina (Deutschland) stehen langfristige Konten mit großen Volumina (Frankreich) gegenüber. Nur eine Betrachtung der wirtschaftlichen Lage der Unternehmen, der Auftragslage, der Beschäftigung, der Produktionspalette, der Arbeitsabläufe erlaubt, den konkreten Gewinn an Zeitautonomie durch Arbeitszeitkonten einzuschätzen. Individuelle Fälle können zudem von den gesamtgesellschaftlichen Mustern abweichen. Ein Beispiel hierfür sind die beiden Fallstudien städtischer Betriebe: Während in Frankreich hier ein relativ begrenztes Arbeitszeitkonto besteht, existieren in Deutschland Langzeitkonten.

Ein weiteres Beispiel betrifft die beiden Betriebe des von uns untersuchten Fahrzeugherstellers. Die Kontenstrukturen in den beiden Betrieben der Fahrzeugherstellung sind relativ ähnlich, beide sind mit drei bzw. vier kurz- oder langzeitigen Kontentypen, entgegen der allgemeinen Tendenz, vergleichsweise umfassend. Der deutsch-französische Vergleich ergibt Gemeinsamkeiten und erlaubt, Hypothesen zur Zeitautonomie zu formulieren. Komplexe Kontensysteme mit drei oder mehr Kontenarten haben den Effekt, Auszeitansprüche von kurzfristigen zu langfristigen Zeithorizonten zu verschieben. Diese Verschiebung dient zunächst den Unternehmen. Sie muss aber auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass ein Teil der Beschäftigten ihr Karriereende mit diesen Instrumenten steuern möchte. Zeitautonomie erstreckt sich insofern auf das Arbeitsleben insgesamt. Betriebsräte sind hier ständig gefordert, zwischen Teilautonomiewünschen abzuwägen: geringe oder hohe Volumina, kurzfristige oder langfristige Konten.

Fazit: Zeitautonomie in Deutschland und Frankreich

In Deutschland werden die meisten Stunden automatisch über die Zeiterfassung den Arbeitszeitkonten gutgeschrieben, während in Frankreich die Beschäftigten meist selbst entscheiden, ob diese Stunden in das Arbeitszeitkonto übertragen werden sollen. Den hohen Volumina, die französische Arbeitszeitkonten erlauben, steht in Deutschland ein eher begrenztes Niveau angesparter Guthaben zur Verfügung. In Deutschland ist die Nutzung des Arbeitszeitkontos nicht zweckgebunden, das heißt: Auszeiten werden für beliebige Gründe beantragt. In Frankreich sind viele Nutzungen zweckgebunden, das heißt: Der weitgesteckte Rahmen erlaubt zwar viele Nutzungsmöglichkeiten (kurzfristige, langfristige, Geld), mit denen aber dann unter Umständen spezielle Verfahren verknüpft sind.

Da sich Zeitautonomie nur über die Analyse der Praktiken der Beschäftigten klären lässt, sind auch die Ergebnisse heterogen. Sie widersprechen einem einfachen Schema, das davon ausgeht, dass langfristig orientierte Konten automatisch über ein höheres Potenzial für Zeitautonomie verfügen – auch deswegen, weil damit noch nichts über die Verfügungsgewalt über die Konten ausgesagt ist. Zwar wird eine dahingehende weitere Öffnung der Konten in Deutschland auch teilweise von Mitarbeitenden angesprochen; doch ist keineswegs klar, dass sie dann auch der Verfügungsgewalt der Beschäftigten dient (und nicht unbezahlter Mehrarbeit). Dies wurde von einigen Betriebsräten angesprochen. Fallübergreifend besteht der Wunsch nach der Möglichkeit, mehrere aufeinander folgende Tage möglichst selbstbestimmt aus dem Arbeitszeitkonto zu entnehmen. Dies ist nicht immer gewährleistet und wäre ein wichtiger Schritt, um Zeitautonomie zu fördern.

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