Hauptinhaltsbereich

Salzgitter Flachstahl

Grüner Stahl: Zukunftsentwicklung in Szenarien denken

Der Betriebsrat qualifiziert sich, um den geplanten technologischen Entwicklungspfad zur Produktion von „grünem Stahl“ beurteilen, die sozialen Folgen für die Beschäftigten abschätzen und die Umstellung in jeder Phase mitgestalten zu können.

Portrait Nachhaltigkeit

Mit dem 2015 beschlossenen SALCOS-Projekt (SAlzgitter Low CO2 Steelmaking) will die Salzgitter Flachstahl GmbH den Umbau ihrer Stahlproduktion in Richtung Dekarbonisierung – das heißt, Verzicht auf die Verbrennung  von Kohlenstoff- und Klimaneutralität angehen. 

Im Kern geht es darum, von der bisherigen kohlebasierten Hochofenroute weg – und zu einer innovativen Eisendirektreduktions-Route auf Basis von „grünem“ Wasserstoff und „grüner“ Verstromung mittels Erneuerbarer Energien hinzukommen. Die Betriebsräte sind in die Entscheidungsprozesse eingebunden. Allerdings sind die Pläne des Unternehmens noch mit vielen Fragezeichen versehen und von vielen Variablen abhängig. Mehr Klarheit über den technologischen Wandel und dessen Chancen und Risiken für die Beschäftigten versuchen sie daher, mithilfe der IG Metall in Szenarien zu erfassen.

Die Stahlerzeugung gilt mit einem CO2-Ausstoß von rund 57 Millionen Tonnen pro Jahr (2019) als einer der größten CO2-Emittenten in Deutschland. Allein die Salzgitter Flachstahl GmbH produziert rund acht Millionen Tonnen CO2 jährlich. Deshalb hat sich das Unternehmen zum Ziel gesetzt, bis spätestens 2050 seinen Stahl klimaneutral zu produzieren. 

Dies soll über ein Stufenkonzept erfolgen: in einer Übergangsphase zunächst über die Direktreduktion von Eisenerz mithilfe von Erdgas und dann zunehmend über „grün“ produzierten Wasserstoff und „grünen“ Strom aus Erneuerbaren Energien. 

Die erste Ausbaustufe mit einer ersten Direktreduktionsanlage und einem Elektrolichtbogenofen, der bereits mit grünem Strom betrieben wird, soll 2026 in Betrieb gehen. Ab diesem Zeitpunkt werden dann der erste kohlebasierte Hochofen und der erste Konverter ihren Betrieb einstellen. 

Bis spätestens 2050 soll dann der gesamte Transformationsprozess abgeschlossen sein. Aber schon in der zweiten Ausbaustufe ab 2030 will das Unternehmen 50 Prozent weniger CO2 ausstoßen. 

Ausgangssituation

Die Salzgitter Flachstahl GmbH setzt bei ihrem Technologiepfad erst einmal darauf, Wasserstoff durch Elektrolyse aus Wasser auf dem eigenen Werksgelände herzustellen. Eine Pilotanlage zur Dampf-Elektrolyse und sieben Windräder, um sich mit „grünem“ Strom selbst zu versorgen, bilden bereits den Anfang. 

Aber bis zur klimaneutralen Stahlproduktion mithilfe von Wasserstoff im industriellen Maßstab ist der Weg noch lang. Und ob der eingeschlagene Technologiepfad letztlich zum Erfolg führt, hängt zum einen von der Flexibilität des Unternehmens ab, diesen Schritt für Schritt an neue Gegebenheiten anzupassen und zu optimieren. Zum anderen ist entscheidend, ob und welche Potenziale und Synergien sich bei diesem Umbau in der Kooperation mit anderen Unternehmen insbesondere für die Herstellung und den Transport von „grünem“ Wasserstoff und „grünem“ Strom ergeben. 

Hoffnung macht der Salzgitter Flachstahl GmbH der auf dem Werksgelände der BOSCH GmbH in Salzgitter errichtete Wasserstoff-Campus, mit dem das Unternehmen – genauso wie andere Unternehmen der Region, zum Beispiel Alstom und MAN – bereits kooperiert. Hier hat sich ein Akteursnetzwerk aus Stadt, Region, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft gegründet, das sich die Errichtung einer Wasserstoffinfrastruktur zum Ziel gesetzt hat und sich als Ausbildungsplattform für Fach- und Führungskräfte rund um das Thema Wasserstofftechnologien versteht. 

Auch beim Aufbringen der Investitionssumme gibt es noch viele Fragezeichen. Allein die erste Ausbaustufe von 2022 bis 2026 auf dem Weg zur Direktreduktion mit Elektrostrom dürfte rund 1,2 Milliarden Euro, der Ausbau insgesamt etwa 3 Milliarden Euro kosten. Für 2021 hat das Unternehmen daher staatliche und EU-Fördermittel in Höhe von 900 Millionen Euro beantragt.   

Betriebsrat bleibt lange außen vor

Was staatliche Hilfen angeht, ziehen die Arbeitgeber der Stahlbranche über die Wirtschaftsvereinigung Stahl und die IG Metall mit ihrer Kampagne „Stahl ist Zukunft“ an einem Strang. Auch die Betriebsräte der Salzgitter Flachstahl GmbH ziehen hierbei mit. Einige von ihnen waren an der Seite der IG Metall beispielsweise auf dem Stahlgipfel der Bundesregierung im Dezember 2020 mit dabei, um ihre Sicht der Lage in die Debatte einzubringen. Auch an der Stahlkonferenz und den Stahlaktionstagen der IG Metall beteiligten sie sich, um ihre Interessen und Forderungen bezüglich Fördermitteln und Rahmenbedingungen an die Politik zu adressieren. 

Im Unternehmen selbst stießen die Betriebsräte dagegen schnell an Grenzen. Denn in die SALCOS-Projektentwicklung ab 2012 war der Betriebsrat nicht eingebunden. Sogar bis heute wird der Betriebsrat aus den SALCOS-Projektplanungen weitgehend herausgehalten. Angeblich – so der Arbeitgeber –, weil der Technologiepfad noch nicht sicher sei und deshalb die Folgen des SALCOS-Projekts für den Standort, die Arbeitsplätze, die Qualifikationen der Beschäftigten und die Arbeitsbedingungen wenig absehbar seien. Erst mithilfe der IG Metall gelang es ihm, gerade in den sozialen Fragen des ökologischen Umbaus mehr Klarheit zu gewinnen. 

Ein Problem ist, dass Betriebsräten gerade bei so anspruchsvollen technologischen Vorhaben wie dem SALCOS-Projekt vom Arbeitgeber oft keine Kompetenz zugeschrieben werden. Das wäre bei einem Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats in wirtschaftlichen Fragen sicherlich anders. So aber werden wir erst dann in die Pläne des Unternehmens eingeweiht, wenn es um die sozialen Folgen geht. Das ist dann aber meistens viel zu spät, um bei Weichenstellungen mitschrauben zu können. Deshalb wäre für uns eine Ausweitung der Mitbestimmung auch auf wirtschaftliche Fragen überaus wichtig.

Peter Gruber, Betriebsrat Salzgitter Flachstahl GmbH

Begleitprojekt der IG Metall

Im Herbst 2021 startete die IG Metall eigens für die Mitbestimmungsakteur*innen der Salzgitter Flachstahl GmbH auf allen Ebenen des Unternehmens bis hin zum Arbeitsdirektor und den Vertrauensleuten das TransfA+Ir-Projekt. Es bietet ihnen eine Plattform, auf der sie sich über technologische Fragen informieren, Ideen austauschen und sich Kompetenzen aneignen können, die notwendig sind, um das SALCOS-Projekt kritisch und proaktiv zu begleiten. 

Im Mittelpunkt stehen vier Workshops, in denen Zukunftsszenarien diskutiert werden, die sich aus den Umbauplänen des Unternehmens entlang der Stufen ergeben, die das Unternehmen bei der Umstellung auf die Produktion von grünem Stahl durchlaufen will (Stufe 1 bis 2026, Stufe 2 bis 2030 und Stufe 3 mit dem Ziel Klimaneutralität bis 2050). 

In einem ersten Workshop im Rahmen des TransfA+Ir-Projekts für die Kolleg*innen der Salzgitter Flachstahl GmbH ging es darum, sich anhand der Studie der Agora Energiewende über die „Jahrhundertaufgabe“ der Transformation der Stahlindustrie gemeinsam ein Bild über die Dimension des anstehenden Umbauprozesses in Richtung Klimaneutralität zu machen. Auch stand die Frage im Zentrum, welche Rahmenbedingungen gegeben sein müssten, um diesen ökologischen und technologischen Umbau sozialgerecht begleiten und gestalten zu können. Dabei wurden insbesondere vorhandene Fördertöpfe in den Blick genommen.

In einem zweiten Workshop befassten sich die Mitbestimmungsakteur*innen vertieft mit den konkreten Umbauvorhaben der Salzgitter Flachstahl GmbH, insbesondere mit dem SALCOS-Projekt. Die einzelnen Stufen, die das Unternehmen dabei durchlaufen will (Stufe 1 bis 2026, Stufe 2 bis 2030 und Stufe 3 mit dem Ziel Klimaneutralität bis 2050) beinhalten bisher noch etliche Variablen, was die Technologien angeht. Das macht es für alle Seiten schwer zu beurteilen, welche Anlagen wie lange noch gebraucht und wann diese durch die neuen erdgas- und später wasserstoffbasierten Direktreduktionsanlagen ersetzt werden. 

Für die nachfolgenden Workshops ist vorgesehen, anhand von verschiedenen Szenarien die Folgen der möglichen ökologisch-technologischen Veränderungen für die Beschäftigung und die Arbeitsbedingungen im Unternehmen abzuschätzen. Daran anknüpfend sollen dann soziale Leitplanken entwickelt und diskutiert werden, um Beschäftigung und Einkommen der Belegschaft zu sichern, betriebsbedingte Kündigungen auszuschließen, Qualifikationen zu erhalten und weiter auszubauen sowie grundsätzlich die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen zu verbessern. 

Schon heute ist erkennbar, dass am Ende der Transformation viele Arbeitsplätze nicht mehr vorhanden sein werden. Ein ganzer Betriebsteil, wie die Kokerei, wird letztlich nicht mehr benötigt. An den neuen Elektrolichtbogenöfen werden vermutlich weniger Arbeitsplätze entstehen als jetzt am Konverter vorhanden sind. Im schlechtesten Fall könnten 800 bis 1.000 Arbeitsplätze wegfallen. Mit der bestehenden Altersteilzeitregelung, die für gerade mal 5 Prozent der Belegschaft infrage kommt, wird dieser Verlust nicht auszugleichen sein. 

Aber vieles ist noch ungewiss. Unter anderem erhofft sich der Betriebsrat daher in den Projekt-Workshops Antworten auf folgende Fragen: Lässt sich die Fertigungstiefe eventuell ausbauen, um Ersatzarbeitsplätze zu schaffen? Was bedeutet es für Qualifikationen und Arbeitsplätze, wenn die kohlebasierte Hochofenroute neben der Direktreduktionsroute noch einige Jahre parallel weitergeführt wird: Wird dann mehr oder weniger Personal benötigt? Welche Qualifikationen braucht das Unternehmen für die Zukunft, welche Ausbildungsberufe sind die richtigen? Was bedeutet die Umstellung für die IT- und Ingenieurberufe: Wie kann der steigende Bedarf rechtzeitig gedeckt werden? 

In Szenarien denken lernen

Aus Sicht von Peter Gruber, Betriebsrat bei Salzgitter Flachstahl, ist der in den Workshops behandelte Szenario-Ansatz ein überaus wichtiges Instrument, um in zeitlichen Phasen und alternativen Technologiepfaden denken zu lernen. Für ihn ist es spannend, in einem gemeinsamen Lernprozess der Mitbestimmungsakteur*innen alternative Entwicklungspfade sowie ihre Vorbedingungen und Konsequenzen für die Zukunft systematisch zu identifizieren und daran anknüpfend unterschiedliche Lösungsansätze zu diskutieren. 

In die Analysen und die Entwicklung der Szenarien sollen möglichst viele Beschäftigte einbezogen werden. Besonders mit internen Sachverständigen, die fest in das SALCOS-Projekt eingebunden sind, und mit jungen Ingenieur*innen möchte der Betriebsrat ins Gespräch kommen. Außerdem setzt er sich dafür ein, dass mehr Beschäftigte im Rahmen des Energieeffizienzprogramms des Unternehmens zu Energiepaten ausgebildet werden und dass das bestehende Ideenmanagement attraktiver gestaltet wird. 

Nicht zuletzt will er die Themen Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz weitaus stärker als bisher auf Betriebsversammlungen und in der gewerkschaftlichen Arbeit thematisieren, wie dies bereits auf dem Stahlaktionstag der IG Metall in Salzgitter im September 2021 der Fall war. 

Kontakt

Peter Gruber, Betriebsrat