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Zahlen und Fakten zur Mitbestimmung

Warum brauchen wir europäische Mindeststandards­ für Information, Konsultation und Partizipation?

Der europäische Binnenmarkt fördert den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen. Er ermöglicht Unternehmen, sich in jedem europäischen Mitgliedstaat niederzulassen und es gibt Arbeitnehmerfreizügigkeit. Aber Arbeitnehmerbeteiligung ist immer noch maßgeblich auf nationaler Ebene geregelt. Das ist ein Problem, insbesondere, weil Europarecht im Kollisionsfall nationales Recht bricht. Unternehmen umgehen die Unternehmensmitbestimmung durch europäisches Recht. Wir brauchen einen effektiveren Schutz und stärkere Informations-, Konsultations- und Mitbestimmungsrechte auf europäischer Ebene.

Unternehmen agieren europäisch und global. In Deutschland sind heute viele Unternehmen mit Sitz im Ausland durch die Errichtung einer Tochtergesellschaft in Deutschland tätig. Strategische Entscheidungen werden in diesen Unternehmen oftmals nicht länger in Deutschland, sondern vielmehr in der ausländischen Muttergesellschaft getroffen, sodass selbst ein mitbestimmter Aufsichtsrat einer deutschen Tochter wenig Gestaltungsspielraum hat (vgl. Sick 2015).

Die größer werdende Anzahl von Unternehmen mit Sitz im europäischen Ausland ist mitbedingt durch den europäischen Binnenmarkt, genauer gesagt die Niederlassungsfreiheit. Diese gewährleistet die Mobilität von Unternehmen in der EU, sodass Unternehmen Wirtschaftstätigkeiten in einem Mitgliedstaat stetig und dauerhaft ausführen können (Art. 49 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union). Europäische Richtlinien und Verordnungen im Rahmen des Gesellschaftsrechtes konkretisieren die Niederlassungsfreiheit. Die Europäische Aktiengesellschaft stellt eine europäische Rechtsform für Unternehmen dar. Hinzu kommen neue Möglichkeiten einer grenzüberschreitenden Umwandlung, Verschmelzung sowie Spaltung von Unternehmen, die jüngst auf europäischer Ebene beschlossen worden sind und die die Mitgliedstaaten nun innerhalb der nächsten drei Jahre in nationales Recht umsetzen müssen.

Eine rein nationale Perspektive auf Fragen der Arbeitnehmermitbestimmung ist durch eine zunehmende Europäisierung sowie Globalisierung von Corporate Governance Strukturen nicht länger möglich. Durch die Europäische Union bietet sich die Möglichkeit, effektive Mitbestimmungsstrukturen in Europa einzuführen. Hier muss der europäische Gesetzgeber aktiv werden, um Mitbestimmung auf Augenhöhe zu ermöglichen.

Informations- und Konsultationsrecht stärken

Ein originär europäisches Gremium wurde durch den Europäischen Betriebsrat geschaffen. Mit der Richtlinie 94/45/EG über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates wurde nach langen Verhandlungen ein Kompromiss erreicht. Voraussetzung für die Gründung eines Europäischen Betriebsrates ist, dass das Unternehmen mindestens 1.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der EU hat und dass mindestens 150 Beschäftige in mindestens zwei Mitgliedstaaten tätigt sind.

Zentrale Forderungen für die Stärkung von Informations- und Konsultationsrechten auf europäischer Ebene (vgl. Feldmann/Leuchters 2019):

  • ein Automatismus von Verhandlungen zur Errichtung eines EBR sowie Anwendung der Auffanglösung bei Anwendung von Instrumenten des europäischen Gesellschaftsrechts,
  • eine verpflichtende Berücksichtigung von EBR­-Stellungnahmen bei bestimmten Entscheidungen der Unternehmensleitung (wie z. B. in den Betriebsverfassungsgesetzen der Niederlande oder Deutschlands),
  • spürbare Sanktionen für den Fall, dass EBR vor Unternehmensentscheidungen nicht konsultiert worden sind, etwa eine Aussetzung der Maßnahme,
  • eine Klarstellung der Prinzipien, um Informationen als „vertraulich“ klassifizieren zu können; weil sie oft dazu genutzt werden, um eine Anhörung des EBR zu umgehen,
  • die Sicherstellung eines Zugangs des EBR zur Justiz, sodass EBR als juristische Personen Gerichtsverfahren gegen das Unternehmen führen können,
  • die Sicherstellung einer effizienten Koordinierung der Arbeitnehmervertretungen durch ein Zutrittsrecht des EBR zu allen Niederlassungen des Unternehmens,
  • die Festlegung objektiver Kriterien für die Entscheidung, wo der EBR seinen Sitz hat, um „Regime Shopping“ oder Nutzung von Briefkastenfirmen zu vermeiden,
  • eine Erhöhung der Anzahl der verpflichtenden Sitzungen auf mindestens zwei im Jahr,
  • Mitwirkungsrechte für Gewerkschaften bei EBR-­Verhandlungen sowie Teilnahmerecht an den Sitzungen des EBR und seiner Führungsgremien.


Europäische Betriebsräte werden bei bestimmten Unternehmensentscheidungen informiert und angehört, wenn es einen grenzüberschreitenden Bezug gibt. Dabei spielt insbesondere der Zeitpunkt der Information eine wichtige Rolle, sodass es für die Arbeitnehmervertreter möglich ist, potenzielle Auswirkungen von Unternehmensentscheidungen zu bewerten.

Nach der Revision der EBR­-Richtlinie im Jahr 2009 hätte die EU­Kommission spätestens im Juni 2016 einen Bericht über die Umsetzung der EBR­-Richtlinie sowie ggf. Vorschläge über geeignete Veränderung der EBR­-Richtlinie vorlegen müssen. Der Bericht wurde erst im Mai 2018 veröffentlicht und benennt Probleme der Richtlinie: etwa eine fehlende Liste von Mindestinformationen, die dem EBR zur Verfügung gestellt werden müssen, sowie unklare zeitliche Vorgaben für die Konsultationdes Europäischen Betriebsrates. Eine Revision der Richtlinie lässt aber weiterhin auf sich warten.

Vorschläge zur Veränderung der EBR­-Richtlinie zur Stärkung der Informations-­ und Konsultationsrechte gibt es. Die Einführung wirksamer Sanktionen für den Fall, dass das Management die Informations­- und Konsultationsrechte verletzt, wäre ein wichtiger Schritt. Zudem muss auch eine Stärkung von gewerkschaftlichen Beteiligungsrechten am EBR erfolgen.

EBR können insbesondere in transnationalen Unternehmen ein wichtiges Instrument für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sein, sich über Grenzen hinweg auszutauschen. Das grenzüberschreitende Agieren von Unternehmen macht ein grenzüberschreitendes Gremium der betrieblichen Mitbestimmung notwendig. Die derzeit geltenden Regeln erschweren aber in vielen Fällen die effektive Arbeit von EBR.

Echte Partizipation auf EU-Ebene einführen

Mitbestimmung im Aufsichtsrat ist bereits heute Teil von europäischem (Gesellschafts-­)Recht. Durch die Einführung der Europäischen Aktiengesellschaft bzw. der Europäischen Genossenschaft gibt es in einigen Unternehmen europäischer Rechtsform Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Grundsätzlich gelten bei der Umwandlung einer deutschen AG in eine SE das Verhandlungsprinzip sowie gesetzliche Auffangregeln, wenn der Aufsichtsrat der deutschen AG mitbestimmt ist. Dabei greift das sogenannte „Vorher-Nachher-­Prinzip“: Das Level an Mitbestimmung in der alten deutschen Aktiengesellschaft bleibt auch in der neuen europäischen Aktiengesellschaft erhalten.

Was wie ein guter Kompromiss klingt, ist in der Praxis eine weitere Möglichkeit die Mitbestimmung zu umgehen: Unternehmen nutzen kurz vor dem Erreichen deutscher Schwellenwerte für die Unternehmensmitbestimmung die Möglichkeit, sich in eine Europäische Aktiengesellschaft umzuwandeln. Durch das „Vorher­-Nachher­-Prinzip“ bleibt die Mitbestimmung eingefroren; auch wenn nachträglich nationale Schwellenwerte in der SE überschritten werden, bleibt das Level an Mitbestimmung „eingefroren“.

Im Dezember wurden neue europäische Regelungen zur grenzüberschreitenden Umwandlung, Verschmelzung und Spaltung von Unternehmen eingeführt. Anders als im Falle der SE muss bereits beim Erreichen von Vierfünftel des nationalen Schwellenwertes über die Mitbestimmung im Aufsichtsrat verhandelt werden. Da die gesetzliche Auffanglösung aber ebenfalls dem „Vorher-­Nachher­-Prinzip“ folgt, gibt es kaum Verhandlungsmacht für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer.

Die bestehenden Regelungen sind schlichtweg nicht geeignet, die Mitbestimmung adäquat zu schützen. Um Partizipation auf europäischer Ebene zu ermöglichen und Augenhöhe herzustellen, muss eine Richtlinie für Unterrichtung, Anhörung und Mitbestimmung auf europäischer Ebene eingeführt werden, wie der Europäische Gewerkschaftsbund sowie der DGB sie fordert.

Zentrale Forderungen für den Schutz und die Stärkung einer Stakeholder-orientierten Unternehmensführung (vgl. Feldmann/Leuchters 2019):

  • Eine Neuverhandlung der Mitbestimmung einer SE mit neuer Auffangregelung, wenn die Zahl der Beschäftigten im jeweiligen Mitgliedstaat die Schwellenwerte der jeweiligen Mitbestimmungsgesetze übersteigt. Die neue Auffangregelung orientiert sich dann an dem Mitbestimmungslevel, ausgelöst durch die dann neu überschrittenen Schwellenwerte.
  • Eine gleichberechtigte Stärkung der Rechte von Stakeholdern,
  • keine weitere Kompetenzverlagerung vom mitbestimmten Aufsichtsrat in die Hauptversammlung,
  • den Vorrang einer nachhaltigen Unternehmensführung, die den Perspektiven für Arbeitsplätze, Standorte, lebenswerte Regionen und Mitbestimmung einen höheren Stellenwert einräumt als dem kurzfristigen Gewinnstreben von Investorinnen und Investoren.


Eine solche Richtlinie würde bei allen Instrumenten des europäischen Gesellschaftsrechts greifen und hätte ein dynamisches Element, den sogenannten Escalator: Das Level der Arbeitnehmermitbestimmung im Aufsichtsrat ist abhängig von der Beschäftigtenzahl bei Unternehmen, die europäisches Gesellschaftsrecht nutzen. Ab 50 Beschäftigten gäbe es zwei bis drei Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmerseite im Aufsichtsrat, bei 250 wäre ein Drittel des Aufsichtsrates sowie ab 1.000 Beschäftigten die Hälfte der Sitze durch Vertreterinnen und Vertreter der Arbeitnehmer zu besetzen.

Literatur
Feldmann, Martin/Leuchters, Maxi (2019): Neues EU-­Parlament, neue EU­-Kommission – Neuer Schwung für Workers‘ Voice? Reihe: Mitbestimmungsreport, Nr. 50. Düsseldorf
Sick, Sebastian (2015): Mitbestimmungsfeindlicheres Klima. Unternehmen nutzen ihre Freiheiten – Arbeitnehmer werden um ihre Mitbestimmungsrechte gebracht. Reihe: Mitbestimmungsreport, Nr. 13, Düsseldorf