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Mitbestimmungsreport 77

Eindämmung des "Einfriereffekts" bei der SE

In ihrem Koalitionsvertrag hat die „Ampel“ vereinbart, gegen die Mitbestimmungsvermeidung bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) vorzugehen. Ein neues Gutachten zeigt, was die Politik durch nationale Gesetzgebung konkret dagegen tun kann.

Der Gesetzgeber ist am Zug

Kooperation und Sozialpartnerschaft bilden einen Grundpfeiler des Erfolgs der sozialen Marktwirtschaft. Deutschland ist in der Vergangenheit besser durch Krisen hindurchgekommen als viele andere Länder. Angesichts der immensen Herausforderungen der Zukunft ist für den Zusammenhalt des Landes eine gelebte Sozialpartnerschaft in einem ausgewogenen Kräfteverhältnis mehr denn je gefragt. Als Kernbestandteil gehört dazu die Unternehmensmitbestimmung. Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat bilden das Gegengewicht zu einseitigen Investorenentscheidungen.

Dennoch hat das Ausmaß der Mitbestimmungsvermeidung seit den 2000er-Jahren dramatisch zugenommen. Mindestens 424 Unternehmen mit mehr als 2000 Arbeitnehmern im Inland umgehen die paritätische Mitbestimmung im Aufsichtsrat. Das betrifft mindestens 2,4 Millionen Beschäftigte. Im Bereich der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) ist das Problem aufgrund des „Einfriereffekts“ besonders gravierend.

Nur jede sechste SE mit mehr als 2000 Inlandsbeschäftigten ist aktuell paritätisch mitbestimmt. Das stellt eine Gefahr für die Zukunft der Mitbestimmung dar, weil sich insbesondere nachwachsende Unternehmen, auch vielfach Familienunternehmen, mittels SE der Mitbestimmung entziehen. Wer den Wert der Mitbestimmung bewahren möchte, muss sich für die Eindämmung des „Einfriereffekts“ bei der SE einsetzen.

Das Ziel des Koalitionsvertrags der Bundesregierung ist es, das „Einfrieren“ der Mitbestimmung zu unterbinden. Dort heißt es: „Missbräuchliche Umgehung geltenden Mitbestimmungsrechts wollen wir verhindern.“ Und „die Bundesregierung wird sich dafür einsetzen, dass die Unternehmensmitbestimmung weiterentwickelt wird, sodass es nicht mehr zur vollständigen Mitbestimmungsvermeidung beim Zuwachs von SE-Gesellschaften kommen kann (Einfriereffekt)“.

Prof. Dr. Rüdiger Krause hat umfassend und überzeugend die rechtlichen Möglichkeiten im nationalen Recht dahingehend ausgelotet, wie der „Einfriereffekt“ durch ein dynamisches Element im SEBG eingedämmt werden kann. Nun ist der nationale Gesetzgeber gefragt, die Vorschläge umzusetzen. Ein Warten auf europäische Abhilfe kann nicht die Lösung sein.

Mitbestimmungsreport 77

Eindämmung des "Einfriereffekts" bei der Europäischen Gesellschaft (SE)

Rechtliche Zulässigkeit gesetzlicher Maßnahmen bei SE und grenzüberschreitender Verschmelzung

Rüdiger Krause

Mitbestimmungsreport 77
Düsseldorf: 2023, ISSN 2364-0413, 42 Seiten

Auf einen Blick:

  • Der mögliche „Einfriereffekt“ bei der Europäischen Aktiengesellschaft (SE) stellt eine Bedrohung für die Mitbestimmung dar. Wird ein deutsches Unternehmen noch vor dem Erreichen der maßgeblichen Schwellenwerte des Drittelbeteiligungsgetzes (500 Beschäftigte) bzw. des Mitbestimmungsgesetzes (2000 Beschäftigte) in eine SE umstrukturiert, so verbleibt es grundsätzlich bei der Mitbestimmungsfreiheit bzw. der Drittelbeteiligung, auch wenn die Schwellenwerte später durch Belegschaftswachstum überschritten werden.
  • Eine Weiterentwicklung der nationalen Vorschriften für die Arbeitnehmerbeteiligung in der SE zur Eindämmung des „Einfriereffekts“ muss sich an den Vorgaben der SE -Richtlinie messen lassen.
  • Europarechtlich möglich und sinnvoll ist eine Konkretisierung des speziellen Missbrauchsverbots im deutschen SE-Recht.
  • Unproblematisch erscheint eine gesetzliche Vermutung für einen Missbrauch, die dann eingreift, wenn innerhalb von vier Jahren nach Gründung der SE die Schwellenwerte der nationalen Mitbestimmungsgesetze überschritten werden. Auch eine gesetzliche Fiktion des Missbrauchs wäre in diesem Fall europarechtlich zulässig.
  • Werden die Schwellenwerte erst nach einer längeren Zeitspanne überschritten, müsste mangels Vermutung ein Missbrauch dargetan werden. Hierfür kann der Gesetzgeber Anhaltspunkte schaffen, insbesondere z. B., dass Beschäftigung und Wertschöpfung im Wesentlichen auf Deutschland beschränkt sind („Inlands-SE“).
  • Als Rechtsfolge eines Missbrauchs sollten Neuverhandlungen mit einer Auffangregelung vorgesehen werden, die sich an der aktuellen Größe des Unternehmens orientiert.
  • Es stellt keine unzulässige Rückwirkung dar, eine solche neue Regelung auf bereits bestehende SE anzuwenden.
  • Soweit es um die Eindämmung des „Einfriereffekts“ bei grenzüberschreitenden Verschmelzungen geht, kann sich der deutsche Gesetzgeber mangels einer speziellen Richtlinienbestimmung nur auf die allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätze zum Rechtsmissbrauch stützen.

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