Exzellenz hat ihren Preis
Gutachten: Öffentliche Investitionsbedarfe und deren Finanzierung
Die sozial-ökologische und digitale Transformation in Wirtschaft und Gesellschaft kann nur gelingen, wenn sie durch öffentliche Investitionen unterstützt und durch die öffentlichen Haushalte finanziell flankiert wird. Ein Gutachten zeigt am Beispiel Baden-Württembergs, was getan werden muss, um diese Förderung effektiv leisten, damit das Land weiterhin seinen Exzellenz-Status bewahren kann.

Die aktuelle Finanzkrise im Bund hat ihr Pendant in den Bundesländern. Auch sie stehen vor der Herausforderung, trotz knapper öffentlicher Haushalte die Transformation voranzubringen und zu fördern – und dabei die gesetzlich vorgegebene Schuldenbremse einzuhalten.
Baden-Württemberg gilt als moderner Wirtschaftsstandort. Aber bei näherer Betrachtung tut sich das Land schwer, die Anforderungen, die es in der doppelten – digitalen und sozial-ökologischen – Transformation zu stemmen hat, bewältigen zu können. Kritisch betrachtet, kann die Finanzpolitik der Landesregierung als – im Vergleich zu anderen Bundesländern – zurückhaltend gewertet werden. Und dies trotz erheblicher Defizite in der öffentlichen Infrastruktur. Außerdem lassen sich vielfältige Modernisierungsdefizite beobachten, die die wirtschaftliche Dynamik des Landes bremsen. Damit läuft es Gefahr, seine im Ländervergleich starke wirtschaftliche Position („Exzellenz“) zu schwächen, wenn nicht sogar diese Position zu verspielen, sollte sich die Landesregierung nicht schon bald auf den notwendigen Pfadwechsel begeben.
Aus dieser Erkenntnis heraus wandte sich der DGB Baden-Württemberg Anfang 2024 an die Forschungsgruppe für Strukturwandel und Finanzpolitik in Hannover mit der Bitte, im Rahmen eines Projekts der Förderlinie Transformation der Hans-Böckler-Stiftung ein Gutachten über öffentliche Investitionsbedarfe in Baden-Württemberg und deren Finanzierung zu erstellen. Er versprach sich davon, konkrete Daten über die aktuelle finanzielle und wirtschaftliche Situation des Landes zu erhalten. Darüber hinaus sollten ihm die Daten als Basis dienen, um als relevanter Akteur auf allen Ebenen – Land, Bezirk, Kommune – eine politische Debatte über die Rolle der öffentlichen Haushalte in Zeiten der Transformation anzustoßen und hierbei auch innovative Wege und Instrumente zur Finanzierung der notwendigen Investitionen – selbst unter Berücksichtigung der gesetzlichen Schuldenbremse – ins Gespräch zu bringen.
Nach den Fallbeispielen Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Sachsen hat sich das Projektteam um Torsten Windels (Projektleiter), Dr. Juliane Bielinski und Dr. Arno Brandt von der Hannoveraner Forschungsgruppe für Strukturwandel und Finanzpolitik nun auch – auf Initiative des DGB – mit den öffentlichen Investitionsbedarfen in Baden-Württemberg und deren öffentlicher Finanzierung durch die Landesregierung befasst. Seine Ergebnisse fasst das Projektteam in dem im Oktober 2024 öffentlich vorgestellten Gutachten „Exzellenz kommt nicht von alleine – Öffentliche Investitionsbedarfe und deren Finanzierung in Baden-Württemberg“ zusammen.
Auf der Basis eines breiten Daten-Mixes von Forschungsberichten und Analysen von Forschungsinstituten, Ministerien, Verbänden, Stiftungen und einschlägiger Fachliteratur, themenspezifischen öffentlichen Statistiken und Sonderauswertungen untersucht die Studie die Stärken und Schwächen der Finanzpolitik in Baden-Württemberg wie auch die des Kapitalstocks des Landes und errechnet beziehungsweise beschreibt die Investitionsbedarfe in fünf landespolitisch wichtigen Feldern (Klimaneutralität, Infrastruktur, Wohnen, Bildung, Gesundheit). Bei den darauf aufbauenden Finanzierungsempfehlungen wird stets die gesetzlich bestehende Schuldenbremse mitberücksichtigt.
Ziel des Projekts ist es, die regionalen, politischen und gewerkschaftlichen Akteur*innen argumentativ zu unterstützen, innovative Leitbilder für die regionale Gestaltung der Transformation in Baden-Württemberg zu entwickeln, entsprechende Investitionsanforderungen zu stellen und darauf bezogene realistische Finanzierungsmöglichkeiten in den öffentlichen Diskurs zu tragen.
Das Projekt startete im April 2024 und endete im Oktober 2024 mit der öffentlichen Präsentation der Ergebnisse auf einer Pressekonferenz des DGB Baden-Württemberg.
Torsten Windels, ProjektleiterWas wir sehen, sind diverse Versäumnisse in der Vergangenheit. Das führt zu einer starken Differenz zwischen den Investitionen, die nötig sind und denen die effektiv getätigt werden.
Dass gerade Baden-Württemberg bis heute akribisch an der Landesschuldenbremse festhält, dürfte ebenfalls dem „schwäbische Hausfrau“-Prinzip zuzuschreiben sein. „Der Staat darf sich nicht verschulden: Dieses Vorurteil ist noch immer vorherrschend. Dabei ist doch Fakt, dass Staatshaushalt und private Haushalte nicht nach den gleichen Prinzipien funktionieren“, so Windels.
Aktuelle Finanzkraft reicht nicht aus
Das Land ist zwar finanzstark und verfügt im Ländervergleich über das dritthöchste Steueraufkommen pro Einwohner. Es ist auch vergleichsweise niedrig verschuldet. Auch zeigt es sich in schwierigen Zeiten in der Finanzpolitik flexibel: So etwa reagierte die Landesregierung in der Zeit der Corona-Pandemie mit einer Aussetzung der Schuldenbremse und beschloss zwei Nachtragshaushalte, eine Erweiterung des Kreditrahmens und langfristige Tilgungspläne. Überdies können rund achtzig Prozent der Kommunen in Baden-Württemberg auf Rücklagen zurückgreifen, um ihren Haushalt abzuschließen. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass nach Ansicht der Kommunalverbände der Gesamtstaat die Grenze seiner Leistbarkeit erreicht hat. Folglich reicht die bis heute beachtliche Finanzkraft des Landes nicht aus, um zukunftsfähig zu bleiben.
Allein schon im Straßenverkehr tun sich immer größere Lücken auf, da die staatlichen Investitionen in den Bau von Brücken und Erhalt von Straßen und Autobahnen einem rasanten Werteverzehr unterliegen, der den Ländern immer mehr Ausgaben abnötigt, um den Verfall von Straßen und andere Verkehrsmängel zu beseitigen oder zumindest abzumildern. Das heißt: Auch wenn das Land seine Investitionen in Infrastruktur in den letzten Jahren ausgebaut hat, reichten die eingesetzten Mittel kaum aus, um den Verfall der Straßen aufzuhalten.
Fakt ist ebenfalls, dass Baden-Württemberg im Ländervergleich zwar über eine große Menge an Finanzmitteln im Haushalt für Investitionen verfügt, dieses aber nicht „auf die Straße“ bringen kann. „Es herrscht oft weniger ein Geld-, als vielmehr ein Realisierungsmangel“, berichtet Projektleiter Windels. Ursächlich dafür sind unter anderem lang andauernde Genehmigungs- und komplizierte Planungsverfahren, das langsame Tempo und Defizite bei der Digitalisierung, aber auch zu wenig Personal in einzelnen Bereichen. Aktuell kann das Land aus diesen Gründen rund zehn Milliarden Euro für bereits bewilligte Investitionen nicht realisieren. „Damit ergibt sich eine Kettenreaktion: Die mangelnde Investitionsfähigkeit oder -bereitschaft der Landesregierung geht zulasten der Wachstumsdynamik und damit der Wohlstandsproduktion“, schlussfolgert der Wissenschaftler.
Projekte ... | ...werden nicht durchgeführt | ...werden abgespeckt durchgeführt | …verzögern sich um mind. 1 Jahr | …verteuern sich um mehr als 25% |
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Unzureichende Eigenmittel (Zuweisungen, Steuereinnahmen) | 55 | 42 | 41 | 24 |
Komplexe Fördermittelbeantragung | 25 | 13 | 43 | 18 |
Langwierige Bearbeitung von Förderanträgen durch die Bewilligungsstellen | 17 | 9 | 57 | 23 |
Komplexe, zeitaufwendige Vergabeverfahren | 12 | 8 | 60 | 26 |
Komplexe baurechtliche Vorgaben | 12 | 8 | 55 | 32 |
Komplexe Genehmigungsverfahren | 10 | 7 | 60 | 25 |
Personalmangel in Bauverwaltung (Hoch-/Tiefbauamt) | 29 | 16 | 56 | 19 |
Preissteigerung in der Bauwirtschaft | 63 | 66 | 31 | 48 |
Zu geringe Anzahl von Angeboten bei Ausschreibungen | 52 | 46 | 72 | 28 |
Quelle: KfW Research: Kreditanstalt für Wiederaufbau, Kommunalpanel 2024, Mai 2024S. 19-23, Auswahl, Mehrfachantworten möglich
© FSF Hannover
Gut kalkulierter Investitionsbedarf
Das Gutachten hat sich fünf Bereiche intensiver angeschaut, um vorhandene Defizite, die die Zukunftsfähigkeit des Landes behindern, und entsprechende Investitionsbedarfe genauer ausmachen zu können. Zum Schluss befasst es sich mit der Frage, wie die für eine stabile Zukunftsentwicklung als notwendig erkannten Investitionen finanziert werden können.
Insgesamt 166,6 Milliarden Euro benötigt Baden-Württemberg in den nächsten zehn Jahren, um seine wirtschaftliche Spitzenposition im Ländervergleich erhalten beziehungsweise wieder erringen kann. Das sind jährlich knapp 16,7 Milliarden Euro. Für die fünf zentralen Politikfelder hieße das: jährliche Ausgaben für den Klimaschutz in Höhe von 5,5 Milliarden Euro, für die Infrastruktur von insgesamt 5,3 Milliarden Euro, für die Schaffung von 13.000 Sozialwohnungen pro Jahr von 1,8 Milliarden Euro, für das Gesundheitswesen von 1,2 Milliarden Euro und für das Bildungswesen von 2,8 Milliarden Euro.
Politikfeld | Maßnahmen | Ansatz Kap. 3 Mrd. EUR | 2024-2033 Mrd. EUR | Jährlich Mio. EUR |
---|---|---|---|---|
Klimaschutz darunter | Insgesamt
| 55,5 38,8
| 55,5 38,8 16,6 | 5.547 3.884 1663 |
Infrastruktur darunter | Insgesamt (nur Landesanteil)
|
1,50
1,80 31,83
7,20 5,26 | 52,90 1,50
1,80 31,83
9,00 1 8,77 1 | 5.290 150
180 3.183
900 877 |
Wohnen | Schaffung von 13.000 Sozialwohnungen pro Jahr
| 18,2 11,0 7,2 | 18,2 11,0 7,2 | 1.820 1.100 720 |
Gesundheit | Insgesamt (Mittelwert)
|
1,61 | 11,7
1,34 1 | 1.179
134 |
Bildung | Insgesamt
|
8,2 1,7 6,9 11,4 | 28,2 8,2 1,7 6,9 11,4 | 2.820 820 170 690 1.140 |
Summe | 166,6 | 16.656 |
Anmerkungen: Hier werden die Gesamtbedarfszahlen abgebildet. Teilweise stehen diesen bereits Haushaltsansätze gegenüber. Diese sind hier nicht ausgewiesen. 1 linear angepasst (ohne Preissteigerungen) 2 Mittelwert
Quelle: FSF 2024
© FSF Hannover

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Es gibt viele Treiber von Transformationsprozessen: Digitale Transformation, Klimawandel, Energiekrise etc. Folgen sind hoher Veränderungsdruck in Betrieben, Branchen und Regionen und für die dort arbeitenden Menschen. Im Zentrum der Förderlinie steht: Wir bringen Erfahrungswissen und akademisches Wissen gewinnbringend zusammen – betrieblich, regional, lösungsorientiert. Das Ziel ist, mit kurzformatigen Projekten dem hohen Veränderungsdruck in der Arbeitswelt Rechnung zu tragen. Die Veränderungsdynamiken und ihre Anforderungen an Mitbestimmungsprozesse und ihre Akteure sollen wissenschaftlich beraten und begleitet werden.