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Wirtschaftsdemokratie (mit Video)

Unternehmensmitbestimmung in Genossenschaften

Genossenschaften geraten als alternative Unternehmensformen wieder stärker ins Blickfeld. Wie steht es um die Mitbestimmung in großen mitglieder- und beschäftigungsstarken Genossenschaften?

Mit unserer Studie, die vom I.M.U. der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde, wollten wir die beiden Forschungsfelder der genossenschaftlichen Organisationsform und der Mitbestimmung zusammenbringen. Zentral stellten sich uns dabei die folgenden Fragen:

  • Welche Rolle spielt die Mitbestimmung in einer Organisationsform, der bereits aufgrund ihrer genossenschaftlichen Prinzipien eine demokratische Ausrichtung zugesprochen wird?
  • Wofür brauchen Unternehmen neben der genossenschaftlichen Mitbestimmung überhaupt noch die unternehmerische und die betriebliche Mitbestimmung?
  • In welchem Verhältnis stehen die unterschiedlichen Formen der Mitbestimmung in den paritätisch mitbestimmten Genossenschaften?

In Deutschland haben insgesamt neun Genossenschaften mehr als 2.000 Beschäftigte. Damit fallen sie unter das Mitbestimmungsgesetz (M76) und haben einen von der Kapitalseite (also den Mitgliedern) und von den Beschäftigten (Belegschaft und Gewerkschaft) paritätisch besetzen Aufsichtsrat. Zu sechs dieser Genossenschaften ist es uns gelungen, Zugang zu erhalten und unsere Fragestellungen anhand von explorativen Fallstudien zu untersuchen. Zu diesem Zweck haben wir Interviews mit Vorstand, den Aufsichtsratsvorsitzenden und ihren Stellvertretern sowie einzelnen Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertretern im Aufsichtsrat, aber auch dem Management geführt. Die Unternehmen sind im Einzelnen: die Steuerberatergenossenschaft DATEV, die Apothekergenossenschaft Sanacorp, die Apobank und die Berliner Volksbank als Kreditgenossenschaften, das Deutsche Milchkontor als Molkereigenossenschaft und Coop als Konsumgenossenschaft.

Cover Study 414

Klemisch, Herbert / Boddenberg, Moritz (2019): Unternehmensmitbestimmung in Genossenschaften

 

Study der Hans-Böckler-Stiftung, Nr. 414
Düsseldorf, 2019

Demokratie oder Postdemokratie?

Formal kann jedes Mitglied dieser Genossenschaften ein Mandat erlangen, indem es in der Vertreterversammlung für den Aufsichtsrat kandidiert. Unsere Untersuchung zeigt allerdings: In der Praxis sind die Möglichkeiten, Einfluss auf die Ausrichtung des Unternehmens zu nehmen, eher gering. Wir führen dies insbesondere darauf zurück, dass Lobbygruppen bei der Besetzung der Aufsichtsratsmandate Priorität genießen. So wird die Besetzung des Aufsichtsrats in der Apobank genau zwischen den Heilberufsgruppen (Ärzte, Zahnärzte, Apotheker) und Verbändevertretern (z.B.Marburger Bund) austariert. Hinzu kommt: In einigen Genossenschaften können die meisten Beschäftigten gemäß Satzung gar nicht Mitglied der Genossenschaft werden, da sie nicht dem Berufsstand angehören (z.B. Apotheker, Steuerberater). In anderen Genossenschaften haben wir beobachtet, dass das System der Unternehmensmitbestimmung durch Beiräte unterlaufen wird, zu denen die Arbeitnehmervertreter/ innen kaum Zugang haben. Diesen faktischen Mangel an demokratischen Einflussmöglichkeiten bezeichneten einige unserer Interviewpartner als „postdemokratische Tendenzen“. Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch prägte den Begriff der „Postdemokratie“ für eine schleichende Aushöhlung der politischen Willensbildung. Prozesse der Postdemokratisierung lassen sich jedoch zunehmend auch auf der Ebene von Unternehmen beobachten. Gemeint ist damit etwa, dass die betriebliche Mitbestimmung als Faktor für die Demokratisierung des Wirtschaftslebens in der Öffentlichkeit zwar als stabil verkauft, in der Realität jedoch immer mehr ausgehöhlt wird. Ein Beispiel dafür sind auch die sogenannten Beiräte, in die der Vorstand entsprechende Experten aus den Berufsgruppen und Verbänden beruft und damit ein stückweit die Mitbestimmungsstruktur unterläuft.

Die unternehmerische Mitbestimmungspraxis

Die paritätische Mitbestimmung wurde von unseren Interviewpartnern durchgehend als sehr positiv bewertet. Grundsätzlich scheint die Zusammenarbeit zwischen Vorstand und Aufsichtsrat sehr konstruktiv zu sein. Arbeitnehmer- und Gewerkschaftsvertreter einiger Genossenschaften plädierten dafür dass sich die Kommunikation bei der Vorbereitung der Aufsichtsratssitzungen weiter verbessern müsste. Die konstruktive Zusammenarbeit wird von der Arbeitgeberseite vor allem mit der Expertise und Unternehmenskenntnis der Aufsichtsratsmitglieder begründet. Als Genossenschaftsmitglied bzw. Beschäftigte seien sie besser mit dem Unternehmen vertraut, als dies beispielsweise bei den Aufsichtsräten einer Aktiengesellschaft der Fall ist. Die Arbeitnehmerseite wiederum profitiert vom genossenschaftlichen Identitätsprinzip: Das Verhältnis zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber wird auf eine andere Ebene gestellt, da der Arbeitgeber zugleich Kunde ist und einen anderen Bezug zum Unternehmen hat als dies beispielsweise bei externen Vertretern im Aufsichtsrat der Fall ist. Es überwiegt eher das Interesse an guten Produkten und Dienstleistungen, als an der Profitmaximierung. Hier liegt ein entscheidender Vorteil einer Genossenschaft, der die unternehmerische Mitbestimmungspraxis stark beeinflusst.

Wirtschaftliche Stabilität

Unsere Analyse von Jahresabschlüssen aus mehreren Jahren bestätigte noch einmal: Genossenschaften sind eine stabile Unternehmensform. Die untersuchten Genossenschaften haben die Wirtschafts- und Finanzkrise nahezu unbeschadet überstanden. Ein Grund: Verglichen z.B. mit börsennotierten Unternehmen weisen sie einen hohen Eigenkapitalanteil aus. So können sie – trotz starker Bedeutung von Dividendenausschüttung und Rückvergütung – unabhängiger Wirtschaften. Darüber hinaus haben Genossenschaften den strukturellen Vorteil, dass sie nicht an den Interessen ihrer eigenen Mitglieder vorbei, an die Konkurrenz oder andere Finanzmarktakteure veräußert werden können. Dennoch können auch in Genossenschaften spätestens im Rahmen von Umstrukturierungen und Unternehmenskrisen Interessenkonflikte auftreten.

Interview mit Dr. Herbert Klemisch

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