Hauptinhaltsbereich

Lesetipp

Das „falsche Buch“. Bittere Wahrheiten über digitale Steuerung von Arbeit.

Kapital hatte immer schon das Interesse und die Macht, Arbeit zu steuern und zu überwachen. Mitbestimmungsrechte konnten hier oft wirksam begrenzen. Eine aktuelle Studie beschreibt anschaulich neue Risiken durch Big Data und algorithmische Steuerung.

Titel-Illustration
© Illustration: Cracked Labs (CC BY-SA 4.0)

Ich hatte unlängst das zweifelhafte Vergnügen, einem Arbeitgeberanwalt zuzuhören, der sich vor einer Gruppe Personalmanager über die lähmende Wirkung von Mitbestimmung in IT-Fragen ausließ. Sein Vortrag hatte eine gewisse Dramatik: Es ging inhaltlich einerseits um IT Security, um existenzielle und drängende Fragen der Wettbewerbsfähigkeit, sowie die Alternativlosigkeit umfassender Nutzung von Big Data und Algorithmen. Auf der anderen Seite warnte er vor dem erpresserischen Potenzial der Mitbestimmung (insbesondere § 87.6 BetrVG). Betriebsräte als Bremser und Mitbestimmungsrechte als Hemmschuh der sich transformierenden deutschen Wirtschaft. Kein neuer Vorwurf. Wir kennen das: Meist werden Betriebsräte bei dieser Gelegenheit als unzureichend informierte, oft uneinige und „auf Krawall gebürstete“ Gremien beschrieben und ihre Berater als professionelle Störenfriede. So weit so schlecht. Im Vortrag des besagten Rechtsberaters kam eine weitere Facette hinzu: Betriebsräte als Opfer von Fake News. Oft könne er sich den Widerstand gegen großartige IT-Solutions nur so erklären, „dass ein Betriebsrat das ‚falsche Buch‘ gelesen hat“. Was für Bücher mögen das wohl sein, fragte ich mich unwillkürlich. Welche Bücher machen es den deutschen Arbeitgebern wohl so schwer, arglos und mit Verve alles zu digitalisieren, was im Augenblick technisch möglich ist? Einige Veröffentlichungen aus der „Böckler-Welt" kamen mir in den Sinn (etwa von Michele Loi, Andree Thieltges oder Heinz-Peter Höller/Peter Wedde ). Auch die Aktivitäten von Algorithmwatch werden dem sichtbar aufgeregten Anwalt wohl regelmäßig als „Dorn im Auge“ landen. Zeitgleich zu seinem (von den anwesenden Personalern übrigens fleißig beklatschten) Vortrag erhalte ich eine E-Mail von einem kenntnisreichen Kollegen. „z.K.“ stand da nur sowie ein Link zu einer Veröffentlichung von Wolfie Christl: „Digitale Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz“ 

Cover

Wolfie Christl (2021): Digitale Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz

Von der Ausweitung betrieblicher Datenerfassung zum algorithmischen Management?

Cracked Labs, Wien, September 2021

Schöne neue Arbeitswelt

Das ist dieses ´falsche´ Buch“ schießt es mir durch den Kopf. Ein Buch, das geeignet zu sein scheint, Betriebsräte randvoll mit Flausen zu füllen und handzahme Interessenvertreter zu Kreuzrittern gegen Überwachung und Verhaltenskontrolle mutieren zu lassen. Schon die Illustration auf dem Cover bannt den Leser. Indirekte Steuerung über den gesamten Personalplanungsprozess kann man hier auf einem dystopisch anmutenden „Dashboard“ bewundern. Böser Sarkasmus? Die Überzeichnung einer fiesen digitalen Zukunft? Bis man dann anfängt zu lesen … und zu staunen. Die digitalen Nachfahren der „wissenschaftlichen Betriebsführung“ von Frederick Winslow Taylor sind längst in der deutschen und österreichischen Arbeitswelt angelangt und toben sich dort aus. Nicht nur als zweifelhafte Offerten von Startups im HR-Tech Bereich (neun Fallbeispiele, deren reale Dashboards in zahlreichen Screenshots der Coverillustration kaum nachstehen), sondern auch als reale Steuerungsmethoden der Arbeit bei Amazon, Zalando und fünf weiteren als Fallbeispiele dargestellten kleineren Unternehmen in Österreich. 

Zunächst ist das, was Wolfie Christl hier beschreibt, aus der Perspektive eines (HR-) Managers durchaus reizvoll – wenngleich er selbst hier durch Künstliche Intelligenz perspektivisch überflüssig werden könnte. Solche Systeme haben im Wortsinne AUTOMATISCH „alles im Griff“ und steuern effizient die ach so eigensinnigen Beschäftigten. Wer sich nicht gut manövrieren lässt oder bestimmten Anforderungen nicht (mehr) genügt, wird markiert und bei passender Gelegenheit entsorgt (was in den häufig prekären Beschäftigungsverhältnissen auch leicht möglich ist, etwa über die Löschung des Accounts bei Liefer- oder Fahrdiensten). Die Personalerseite hingegen verweist meist lieber auf das große Potential mit Blick auf Arbeitssicherheit und Ergonomie, wenn sie algorithmisch gesteuerte HR-Systeme einsetzt. Ich beginne, den ratlosen Anwalt, der sich immer noch auf meinem Bildschirm echauffiert, zu verstehen: Wie können sich Betriebsräte erdreisten, diese wunderbar effiziente, schöne neue Arbeitswelt in Frage zu stellen? 

Zu wahr, um schön zu sein – Kuriositäten aus der Praxis 

Aber die kritischen Betriebsräte sind nicht allein. Wolfie Christl gibt einen umfassenden Überblick über weitere „falsche Bücher“ und Studien aus dem deutschsprachigen, aber auch aus dem internationalen Raum. Aus diesem Fundus schöpft der Autor und verbindet dies mit eigenen Überlegungen. Allein die so entwickelte „Landkarte betrieblicher Datenpraktiken und Systeme“ ist es wert, in Christls Buch zu stöbern. Der Hunger auf Beschäftigtendaten wird nämlich nicht allein durch sogenannte „HR-IT“ gestillt, sondern generell durch alle Systeme, die in der Arbeitswelt zur Kontrolle und Steuerung betrieblicher Kernaufgaben genutzt werden. Hierzu gehören (Waren-) Logistik-Software und sogenannte Enterprise Ressource Planning-Systeme wie SAP ebenso, wie Tools für Kommunikation und Zusammenarbeit innerhalb sowie außerhalb der Unternehmen. Denn selbst die Auswertung von Social-Media-Aktivitäten – z.B. zur Ermittlung möglicher Kündigungsabsichten von Beschäftigten – ist inzwischen technisch möglich (S.123 f.). Je nach Branche und Arbeitskontext kommt so ein bunter Strauß von „Angeboten“ zusammen, den Betriebsräte als Ganzes im Blick haben sollten. 

Die Studie wäre fast schon unterhaltsam zu lesen, wenn die vielen Produkte und Praktiken nicht so erschreckend zeigen würden, wie real die Gefahr der Überwachung und Kontrolle am Arbeitsplatz bereits ist. Jedes Kapitel bietet hier eine neue Perspektive, die ohne besondere Vorkenntnisse sofort eingängig ist. Und sie betrifft nicht nur unmittelbar den eigenen Arbeitskontext. So erfährt man beispielsweise, wieso Amazon-Fahrer einem möglicherweise durch eine besonders risikobereite Fahrweise aufgefallen sind: Es sind die Automatisierten Routenplanungssysteme, die entsprechende „Anreize“ schaffen (S. 36 und S.121). 

Die HR-Optimierungsmaschine braucht einen Drehzahlbegrenzer 

Sehr hilfreich ist auch die wirtschaftsgeschichtliche Einordnung im Kapitel „Systeme zur Steuerung und Kontrolle von Arbeitstätigkeiten“ (S 31 ff.) Hier wird deutlich, dass die Nutzung von Daten zur Effizienzsteigerung und Optimierung von Arbeitsprozessen kein neues Phänomen ist, sondern im Controlling und in der Qualitätssicherung schon seit längerem gängige Praxis ist. Die Möglichkeiten zum „Raten und Ranken“ haben zudem viele Unternehmen und ihre Führungskräfte bereits im „voralgorithmischen Zeitalter“ genutzt (S.43). Die neuen „Fähigkeiten“ algorithmischer Auswertung und Steuerung großer Datenmengen fallen also auf fruchtbaren Boden – und sie findet nicht nur bei den üblichen Verdächtigen wie Uber, Lieferando und Amazon statt. „Human Capital Management“ (HCM) oder gar „Human Experience Management“-Systeme (HXM) erweitern das Datenerfassungs- und Kontrollregime vieler Managements und verfeinern die datengestützte Steuerung. Im schlimmsten Fall entstehen so menschenverachtende Kategorisierungs- und sogar Selektionsmaschinen (S.40).

Übertreibung? Eher nicht. So ermöglicht es Successfactor, maschinell Mitarbeiter als „seriously underperforming“ zu identifizieren. Workday bietet Ähnliches. Andere Systeme versprechen, Aufgaben zu identifizieren, die das Potenzial besitzen, Arbeitskräfte durch Automatisierung zu ersetzen (S.98). Ob solche Systeme im Ergebnis tatsächlich „menschenverachtend“ sind, hängt einerseits von den Anwendern ab – egal ob HRler, Führungskräfte oder auch Beschäftigte in (oft pseudodemokratischen) Peer-Rating-Systemen. Anderseits kommt es inzwischen zunehmend darauf an, wie die verfügbaren Daten ausgewertet, verknüpft und mittels künstlicher Intelligenz zu prognostischen Werkzeugen ausgebaut werden (z.B. die Wahrscheinlichkeit eines Mitarbeiters zu kündigen, Top-Performer zu werden, ein Sicherheitsrisiko darzustellen usw.). Dies zeigt, wie wichtig ein klar begrenzender und wirksam durchgesetzter Gesetzesrahmen ist, der Anbieter und Anwender u.a. zu Transparenz verpflichtet. Entscheidend ist zudem, ob sie sich mit einer kollektiven betrieblichen „Gegenmacht“ auseinandersetzen müssen. 

Dass nicht wenige Arbeitgeber und Investoren gerne auf die betriebliche Mitbestimmung verzichten würden, illustriert das Cover-Bild der Studie: Eine rote Alarmleuchte warnt vor dem „Sicherheitsrisiko Betriebsrat“. Sicherheitsrisiko? Vielleicht doch eher eine wichtige Kontrollinstanz, damit Geschäftsmodelle auf ethisch einwandfreien und damit nachhaltigen Managementpraktiken aufbauen und sich ein Unternehmen nicht auf einen sozialen Holzweg begibt. 

Technologie, die dem Menschen dient und ihn nicht knechtet

Betriebs- und Personalräte finden in diesem Buch viele Argumente für ihren Kampf um eine menschliche Gestaltung der digitalen Arbeitswelt. Dazu gehören auch solche, die die betriebswirtschaftliche Effektivität vieler effizienzgetriebener Systeme anzweifeln. 

Auch wenn viele der beschriebenen Erkenntnisse nicht gänzlich neu sind und bereits in anderen Studien umfassend beschrieben wurden: Die Studie bietet einen ebenso kompakten, wie umfassenden und anschaulichen Überblick, was möglich ist und heute bereits genutzt wird. 

Auch aus Arbeitgebersicht – bzw. aus Sicht von Führungskräften, die übrigens zunehmend selbst in den Fokus von Rating- und Rankingsystemen geraten (S. 51 f.) – könnte es nur auf den ersten Blick ein „falsches Buch“ sein. Denn aus unseren zahlreichen Einblicken in die Praxis wissen wir: Betriebsräte sind ein wichtiges Korrektiv, eine „zweite Meinung“ die das Management „auf den Teppich“ zurückholt. Zahlreiche konkrete Beispiele, welchen Mehrwert die betriebliche Mitbestimmung hier bieten kann, finden sich in unserem „Praxiswissen Betriebsvereinbarungen“. 

Gleichzeitig ist es wichtiger denn je, gemeinsam zu überlegen, wie die neuen technischen Möglichkeiten für die Gestaltung von guter Arbeit eingesetzt werden können. Fundamentalopposition ist da nicht angesagt. Hier lässt Christl möglicherweise ein bisschen „was liegen“. Können z.B. wirksame und IT-gestützte Personalplanungs-, Arbeitssicherheits- und Gesundheitssysteme nicht auch Belastungen reduzieren, Qualifizierung und ggf. individuelle Flexibilität ermöglichen? Was braucht es hierfür? Auch müssen Betriebs- und Personalräte damit umgehen, dass viele Systeme von den Beschäftigten selbst als bequem oder entlastend wahrgenommen werden. Umso wichtiger ist es, dass eine Interessenvertretung (aber auch eine Personalabteilung, die ihren Job ernst nimmt) die „Risiken, Nebenwirkungen und Missbrauchspotenziale“ ebenso klar benennt, wie die darin liegenden Chancen für die Beschäftigten. 

Auch dem aufgeregten Arbeitgeberanwalt sind also „falsche Bücher“ wie das von Wolfie Christl unbedingt zu empfehlen. Und sei es, um ihm präventiv zu zeigen, wo er mit Gegenwind respektive mit Einigungsstellen zu rechnen hat. 

Für Kunden von Amazon, Zalando und Co. oder auch Nutzern von Call Centern und Lieferdiensten aller Art ist es nebenbei auch ein – bisweilen unangenehmer – Augenöffner. 

Weitere Inhalte zum Thema