Hauptinhaltsbereich

Spielräume ausloten, Interessen gestalten

Mikropolitik in der Unternehmensführung

Während die formale Organisationsstruktur scheinbar eindeutig ist, existiert eine zweite, informelle Ebene: Im Schatten offizieller Regeln entfaltet sich die sogenannte Mikropolitik.

Macht und Interessenstreit sind in Organisationen allgegenwärtig – auch wenn sie nicht immer offen zutage treten. Während die formal ausbuchstabierte Organisationsstruktur mit ihren Stellenbeschreibungen, Organigrammen oder Betriebsvereinbarungen sichtbar und – scheinbar – eindeutig gilt, gibt es eine zweite Ebene der organisationalen Wirklichkeit: die informelle. Im Schatten offizieller Regeln entfaltet sich die sogenannte Mikropolitik. Sie beschäftigt besonders auch Arbeitnehmervertreter*innen in Aufsichtsräten, Mitglieder von Betriebsräten und Beteiligungsgremien und kann zudem ein wirksamer Hebel zur Durchsetzung von Interessen sein – durchaus in Ergänzung formaler Rechte.

Mikropolitik – Was ist das eigentlich?

Aus der großen Politik, sozusagen der Makropolitik, kennen wir das Händeschütteln der Präsidenten und Kanzler vor den Kameras, die bedeutenden Gesten, Reden und Zusammenkünfte, mitunter regelrechte Machtkämpfe. Aber nicht nur in der „echten“ Politik geht es um Fragen der Ordnung, der Regelsetzung und des Streits um Einflussnahme. Auch in der Unternehmenswelt kommt es recht häufig zu einer Art informellen Handelns zwecks Durchsetzung von Interessen. Man spricht dann von Mikropolitik. Es wird mit subtilen Mitteln gearbeitet; sei es durch Informationssteuerung, durch selektive Kommunikation oder eine geschickte Positionierung in Entscheidungssituationen.

Diese Prozesse sind nicht per se negativ zu bewerten. Vielmehr können wir mikropolitische Aktivitäten als unvermeidbaren Bestandteil organisationaler Gestaltung begreifen – als Ausdruck davon, dass Personen als Verantwortungs- und Entscheidungsträger mit unterschiedlichen Interessen, Werten und Perspektiven zusammenarbeiten müssen. Gerade dort, wo das Aushandeln von Interessen besonderen Raum einnimmt, kommt das zum Tragen. Auch Mitbestimmungsakteure bedienen sich daher, bewusst oder unbewusst, mikropolitischer Praktiken. Und sie sind zugleich selbst von Einflussversuchen betroffen. 

Organisationsleitung als Entscheidungsarena

Firmen und Konzerne sind durch wechselvolle Entscheidungsprozesse und mitunter recht verschiedene personelle Motivationen und Fähigkeiten geprägt. Es gibt dabei auch konkurrierende Auffassungen und Interessen hinsichtlich der Unternehmensführung. Wer als Arbeitnehmervertreter*in im Aufsichtsrat tätig ist, bewegt sich in einer Arena mehrerer Einflussgruppen. Hier gelten neben formalen Ordnungen informelle Netzwerke und Spielregeln. Die Beschäftigung mit Mikropolitik hilft, das Terrain der Entscheidungsbildung besser zu verstehen. Sie schärft den Blick für die Machtkonstellationen im Unternehmen, für implizite Allianzen und stille Blockaden. Sie erklärt, warum manche Themen rasch auf die Tagesordnung kommen – und andere spät oder gar nicht. Warum bestimmte Leute Gehör finden – und andere übersehen oder übergangen werden. Weshalb Pläne anfangs in eine klare Richtung weisen – und am Ende sich dahinter noch andere Absichten offenbaren.

Mikropolitische Prozesse verstehen – nicht verdammen

Manche neue Mitglieder in Aufsichtsräten oder auch in den übrigen Beteiligungs- und Mitbestimmungsgremien größerer Unternehmen erleben mikropolitische Prozesse als schwer fassbar und befremdlich. Wer Mikropolitik nur als „Machtspielchen“ abtut, greift zu kurz. Sie ist keine Pathologie der Organisation, sondern bei wichtigen Entscheidungen eher der Normalfall. Ein bedachter Umgang mit Mikropolitik bedeutet deshalb zweierlei: Erstens, sich eigener Einflussmöglichkeiten bewusst zu werden und legitime Interessen zu vertreten. Und zweitens, mikropolitische Aktivitäten bei anderen zu erkennen und darauf angemessen reagieren zu können.

Für Arbeitnehmervertreter*innen im Aufsichtsrat ist mikropolitisches Gespür eine Ressource der Entscheidungsbildung. Schließlich sind ihre Einflussmöglichkeiten strukturell begrenzt: Die Mehrheit der Stimmen liegt meist auf der Kapitalseite und viele Informationen sind asymmetrisch verteilt. Man gewinnt den Eindruck, dass manche Details zurückgehalten werden. Und es gelten Spielregeln, die nicht für alle Beteiligten gleich transparent sind. Dann gilt es, Verbindungen aufzubauen – beispielsweise mit kommunikativ aufgeschlossenen und vermittlungsfreudigen Mitgliedern der Kapitalseite und Unternehmensleitung, um gemeinsame Interessen auszuloten und Dialog zu suchen. Dazu gehört, verfügbare Informationen produktiv zu nutzen: Was wird wann gesagt? Wer sollte was wissen – oder besser nicht? Und nicht zuletzt gehört dazu, sich als berechtigter Interessenvertreterin zu präsentieren: sichtbar, argumentationsstark, nicht verbohrt. Mitbestimmung bedeutet kluges Aushandeln und Mitgestalten. Die Vertreter*innen der Arbeitnehmerseite sind nicht bloße Ergänzung, sondern wesentlicher Einflussfaktor dabei, welche Stimmung ins Unternehmen und die Belegschaft transportiert wird.

Mikropolitik kann man nicht verbieten oder abschaffen. Sie steht schließlich nirgendwo auf dem Papier. Für die Seite der Mitbestimmung bzw. Arbeitnehmervertretung bedeutet das: Sie muss mikropolitische Methodik entwickeln, ohne ihre partizipative Überzeugung und moralische Basis preiszugeben: weder einfach Kungeln noch Mauern. Es ist eine Kunst der informellen und indirekten Machtgestaltung, weder mit der Faust auf den Tisch zu schlagen, noch über den selbigen gezogen zu werden. Eines ist besonders wichtig: Mikropolitik sollte gar nicht so persönlich genommen werden. Denn nicht Menschen „mit Haut und Haar“ stehen sich gegenüber, sondern Beschäftigte in jeweiligen Rollen mit unterschiedlichen Aufträgen und Verantwortlichkeiten. 

Mikropolitik produktiv nutzen

Wer als Arbeitnehmervertreter*in einer großen Organisation wirksam handeln will, kommt an der Beschäftigung mit Mikropolitik nicht vorbei. Sie ist Teil des betrieblichen Alltags – mal offener, mal eher verdeckt, mal verbündend, mal opponierend. Sie zu verstehen heißt, die eigene Rolle genauer und bestenfalls wirksam ausfüllen zu können. Der Instrumentenkasten der Mikropolitik (siehe Tabelle) ist vielfältig und bietet verschiedene Ansatzpunkte in Organisationen. Diesen zu nutzen, bedeutet, für die Interessen der Beschäftigten mehr zu erreichen, als durch reine Appelle oder offensive Ansagen möglich wäre. 

Formen Taktiken Absichten
Informationskontrolle
  • Informationsvorsprung sichern
  • Selektion von Informationen
  • Timing von Informationen
Einfluss auf Entscheidungen durch Kontrolle des Wissensstandes
Beziehungsmanagement
  • Koalitionen bilden
  • Netzwerke pflegen
  • Bündnisse mit Schlüsselakteuren
Unterstützung sichern, Machtbasis stärken
Positionsmanagement
  • Agenda-Setting
  • Besetzung von Gremien und Arbeitsgruppen
  • Delegation strategisch nutzen
Themenhoheit gewinnen, Entscheidungs­räume definieren
Impression Management
  • Selbstinszenierung
  • Präsentation von Erfolgen
  • Schuldumlenkung
Legitimität erhöhen, Kritik vermeiden
Symbolische Handeln
  • Einsatz von Sprache und Ritualen
  • Berufung auf Werte und Normen
  • Symbolische Gesten
Identifikation erzeugen, Widerstände abbauen
Konfliktmanagement
  • Konfliktvermeidung durch Kompromissformeln
  • Indirekte Einflussnahme
  • Spaltung von Gegengruppen
Opposition schwächen, Mehrheiten sichern
Verfahrenssteuerung
  • Kontrolle des Ablaufs (z. B. durch Zeitdruck)
  • Formalismen nutzen
  • Anträge taktisch stellen
Entscheidungs­prozesse in der Entwicklung beeinflussen
Emotionale Einflussnahme
  • Einsatz von Empathie oder Druck
  • Dramatisierung oder Verharmlosung
  • Loyalitätsappelle
Verhalten von Akteuren lenken, Zustimmung erzeugen