Mitbestimmung vor dem EuGH
"Nicht das schwächen, was gut funktioniert."
Die Mitbestimmung ist ein wesentlicher Teil des europäischen Sozialmodells. Angesichts wachsender Ungleichheiten, zunehmender Flexibilisierung und Prekarisierung, muss das soziale Fundament der EU gestärkt werden. Der Dialog zwischen Sozialpartnern und die Mitbestimmung der Belegschaften spielen hierbei eine zentrale Rolle und tragen sowohl zum sozialen Frieden als auch zum wirtschaftlichen Erfolg Europas bei. Darüber hinaus ist die Mitbestimmung aber auch ein Teil gelebte Demokratie. Mitbestimmung und Sozialdialog sind national unterschiedlich ausgestaltet, diese Diversität darf nicht weiter durch die Regeln des Binnenmarktes in Frage gestellt werden.
Liebe Freunde, liebe Vertreter der Böckler Stiftung, lieber Reiner Hoffmann, Vorsitzender des DGB, Herr Direktor der Arbeitnehmerkammer, liebe Vertreter der Gewerkschaft, sehr geehrte Gäste,
Ich glaube, dass 40 Jahre nach der Einführung der Mitbestimmung unter einem sozialdemokratischen Bundeskanzler, Helmut Schmidt, und 65 Jahre nach der Mitbestimmung im Montanbereich, es wirklich an der Zeit ist, wieder über das Funktionieren unseres Wirtschaftssystems nachzudenken. Es wurde vorher bemerkt, dass die Mitbestimmung, so wie sie in Deutschland und in anderen Ländern funktioniert, ein wesentlicher Teil ist unseres europäischen Sozialmodells. Und ich danke deshalb sowohl der Hans Böckler Stiftung wie auch der Arbeitnehmerkammer für diese Konferenz. Ich glaube, es ist ein richtiger Moment, über die Weiterentwicklung der Mitbestimmung zu diskutieren, nachzudenken und auch Schritte zu unternehmen, um diese Weiterentwicklung zu vollziehen.
Es gibt auch nach einer Periode von Liberalisierung, Flexibilisierung, Prekarisierung sowie dieses absoluten, blinden Vertrauens in die Allmacht der Märkte, die Notwendigkeit, eigentlich Alternativen zu dieser Gedankenwelt in den Vordergrund zu stellen. Das neoliberale Denken und Handeln, weil es blieb ja nicht nur beim Denken, hat eigentlich uns in diese tiefe Krise hineingestürzt. Es hat nicht nur Millionen Arbeitslose gekostet, hat viele Staaten in diese Schuldenkrise gebracht, von der man dann fälschlicherweise behauptet, sie sei eine Staatsschuldenkrise. Es ist das natürlich der Zusammenbruch des ganzen Finanzsystems oder besser die Verhinderung des Zusammenbruchs des Finanzsystems, durch massive Staatliche Eingriffe mit Steuergeldern, die diese Schuldenkrise hauptsächlich verursacht hat.
Der Hintergrund, vor dem wir heute gemeinsam über die Zukunft der Mitbestimmung in Europa diskutieren, bleibt relativ düster. Auch, wenn wir uns nicht mehr in einer Phase der akuten wirtschaftlichen Krise befinden, so kann man doch nicht von einer vollständigen Erholung sprechen. Viele Mitgliedsstaaten kämpfen weiterhin mit den sozialen und wirtschaftlichen Nachwehen der Finanzkrise, die in diesen Staaten sehr oft sich in eine Sozialkrise verwandelt hat. Die Euro-Krise ist keineswegs nachhaltig gelöst und auch in den Ländern wie Deutschland oder Luxemburg, die ein positives Wachstum erleben, bleibt der wirtschaftliche Ausblick zumindest unsicher. Die politische Lage ist bei Weitem nicht weniger prekär. Die Fliehkräfte innerhalb der Union werden stärker, die Menschen haben sich zunehmend vom europäischen Integrationsprozess entfremdet, auch wenn gerade das Thema der Zuwanderung und der Flucht dominiert, so ist die Entfremdung gegenüber der EU vorerst auf einen schon länger andauernden Prozess der sozialen Desintegration zurückzuführen.
Wenn wir den Populisten von rechts und anderen EU-Kritikern begegnen wollen, dann müssen wir zuallererst das soziale Fundament der EU wieder stärken. Hierzu zählt auch und insbesondere die Mitbestimmung und die Stärkung des Sozialdialogs. Der Dialog zwischen Sozialpartnern und die Mitbestimmung der Belegschaften sind in den Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausgestattet, was vorher schon betont wurde. Diese Diversität kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Sozialdialog und die Mitbestimmung feste Bestandteile des europäischen Sozialmodells sind. Sie sind historisch gewachsen und haben entscheidend zur sozialen Befriedung, aber auch zum wirtschaftlichen Erfolg Europas beigetragen. Eine moderne Wirtschaft braucht Arbeitnehmerbeteiligung. Das ist ein Modell nicht der Vergangenheit, sondern ein Modell für die Zukunft.
Gerade das deutsche Beispiel zeigt, wie das sozialpartnerschaftliche Handeln zu einer beschäftigungspolitisch erfolgreichen Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise beitragen konnte. Der Fehler innerhalb der EU bestand eher darin, diese „Best Practice“ nicht auf die Krisenstaaten zu übertragen. In diesen Ländern wurden sozialpartnerschaftliche Strukturen noch zusätzlich destabilisiert und in Kernnormen das Arbeitsrecht eingegriffen. In Krisenländern wie Griechenland wurde im Namen der Flexibilität des Arbeitsmarktes die Tarifautonomie auf Geheiß der Troika zerschlagen und das gegen europäische Prinzipien sowie Normen der Internationalen Arbeitsorganisation.
Die Einbeziehung der Arbeitnehmer an den Unternehmensentscheidungen ist jedoch keine reine wirtschaftliche Angelegenheit. Sie dient auch nicht nur der Verbesserung der Arbeitsbedingungen, sie ist ein Stück Demokratie. Sie gibt den Menschen eine Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung ihrer Arbeitswelt. Da es sich bei der Mitbestimmung um ein Stück gelebte Demokratie handelt, sind quer durch Europa unterschiedliche Strukturen und Regelungen zu finden. Sie sind das Resultat nationaler Streitkulturen und Kompromisse. In Luxemburg fußt die Einbeziehung der Arbeitnehmer hauptsächlich auf der Personaldelegation, ab 1.000 Arbeitnehmer ist ebenfalls ein Drittel Vertretung der Arbeitnehmer im Verwaltungsrat vorgesehen. Wir haben in den letzten zwei Jahren diese Vertretung der Arbeitnehmer in den Betrieben modernisiert und auch noch gestärkt, insbesondere was die Befugnisse der Delegation, was in Deutschland mit dem Betriebsrat gleichzusetzen ist. Übrigens ist in Luxemburg das Einsetzen einer Personaldelegation ab 15 Mitarbeitern gesetzliche Pflicht!
Sozialpartnerschaft und ein aktiver Sozialdialog setzt aber auch starke repräsentative Sozialpartner voraus. Und das trifft insbesondere für die Gewerkschaften zu. In Europa sind die Länder wirtschaftlich am erfolgreichsten, wo es starke Gewerkschaften und einen aktiven Sozialdialog gibt. Mitbestimmung ist also keineswegs eine reine deutsche Angelegenheit, also nicht ein rein nationales Spezifikum, auf das im Zuge des Integrationsprozesses jetzt verzichtet werden sollte. Wie sonst lässt sich erklären, dass beispielsweise bereits die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer neben dem Recht auf Unterrichtung und Anhörung, auch die Mitwirkung der Arbeitnehmer im Artikel 17 aufführt.
Auch wenn man jetzt über die Verabschiedung eines Sozialprotokolls nachdenken sollte, so können sich die heutigen Entscheidungsträger in den verschiedenen Institutionen der EU jedoch nicht hinter dem Vorbehalt verstecken, es gäbe keine ausreichenden Sozialnormen. Die gibt es. Es stellt sich nur die Frage, warum den Normen des freien Binnenmarktes ständig der Vorrang gegeben wird. Eine europaweite Harmonisierung und damit die Einführung eines einzigen Modells der Mitbestimmung scheinen momentan illusorisch und werden wohl auch nicht den unterschiedlichen sozialen Realitäten der Mitgliedsstaaten gerecht. Dies bedeutet jedoch auch, dass nationale Formen von Mitbestimmung nicht einseitig durch den Binnenmarkt infrage gestellt werden dürfen. Nichtsdestotrotz appelliere ich an die Kommission, das Thema der Mitbestimmung auch innerhalb der europäischen Säule sozialer Rechte zu verankern. Es besteht durchaus Raum, die bereits bestehenden Minimalanforderungen an das Recht auf Information und Konsultation weiter auszubauen und zu stärken. Dies würde auch das Regimeshopping, was auch vorher aufgeworfen wurde, von Unternehmen erschweren.
Aber wie das schon vorher bemerkt wurde, sind wir auch heute zusammen, weil es eine reelle Gefahr für das System der Mitbestimmung seitens der europäischen Institutionen gibt. Denn einer der Gründe für diese Konferenz ist gerade, weil ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs die Mitbestimmung untergraben könnte. Das System der Mitbestimmung in Deutschland wie in anderen Ländern könnte so untergraben werden. Der Europäische Gerichtshof ist nämlich mit einer Vorlagefrage eines deutschen Gerichts damit befasst, ob die bestehenden Gesetze über die Mitbestimmung in Deutschland - und das könnte auch auf andere Länder ausgeweitet werden - europarechtswidrig ist. Würde das bestätigt, dann würden so die Mitbestimmungsregeln in Deutschland und in anderen Ländern, auch eventuell in Luxemburg, drastisch geschwächt werden. Unter dem Vorwand des Diskriminierungsverbots des Artikels 18, respektiv der Freizügigkeit der Arbeitnehmer des Artikels 45 würde ein wesentlicher Bestandteil eines nationalen Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftsrechts infrage gestellt. Dies wäre ein schwerer Schlag gegen die betriebliche Demokratie, es wäre aber ebenfalls ein Zeichen, dass Europa sich wenig um die effektiven sozialen Rechte der Arbeitnehmer kümmert. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes und Jean-Claude Reding hat den Fall von Viking und Laval und die anderen Fälle vorher schon bemerkt, im Bereich der Entsendungsrichtlinie die Freizügigkeit über soziale Rechte gestellt. Und würde das jetzt auch wieder im Falle der Mitbestimmung geschehen, wäre das ein großer Rückschritt für das soziale Europa, dessen Entwicklung sowieso in den letzten Jahren kaum vorangekommen ist. Es wäre natürlich ein weiterer Sieg für internationale Unternehmen, die über die sogenannten Freihandelsabkommen immer nach besserem Schutz suchen. Der Schutz der Arbeitnehmer aber ist kein Thema. Und deshalb muss Europa auch versuchen, in diesen Verträgen, sollte es dann zum Abschluss kommen, die Interessen der Arbeitnehmer und deren Schutz besser abzusichern. Der Fall von Caterpillar in Belgien zeigt, dass die Instrumente, die wir heute haben, im Bereich des Schutzes und auch des Konsultations- und Informationssystems, was ja auch auf europäischem Recht beruht, eigentlich völlig ungenügend sind, um Restrukturierungen im Bereich von internationalen Firmen sozial zu begleiten. Es steht also für die europäische und nicht nur für die deutsche Corporate Governance vieles auf dem Spiel. Das Rad würde nach 40 Jahren erfolgreicher Mitbestimmung zurückgedreht werden. Die nationalen Bestimmungsregeln würden geschwächt, ohne – und das wurde auch schon bemerkt – ohne, dass die europäischen gestärkt würden. So kann man den Bürgern und insbesondere den Arbeitnehmern Europa nicht mehr vermitteln. Wir sind also alle gefordert, in dieser Sache ein klares politisches Signal zu geben. Die luxemburgische Regierung wird in dieses Verfahren eingreifen, was ihr gutes Recht ist, um ihre Kommentare zu diesem Fall zu machen.
Die Rechtsprechung bei Viking und Laval haben in vielen Ländern zur Europaverdrossenheit beigetragen, und das darf sich nicht noch einmal wiederholen. Jean-Claude Juncker hat den DGB zum 40. Jahrestag der Einführung der Mitbestimmung beglückwünscht. Das ist sicherlich nett und auch positiv. Aber wenn der Präsident, der politisch Verantwortliche für die Kommission, den DGB für etwas beglückwünscht, seine Behörde aber gleichzeitig ein Papier hier in Luxemburg deponiert, wo eigentlich die Rechtsprechung in eine völlig andere Richtung gehen soll, dann muss man sich natürlich über die Kohärenz der Kommission auf höchster Ebene Fragen stellen. Und das ist das, was Europa schadet. Es fehlt an Kohärenz. Es gibt Reden, es gibt Diskurse, wir haben auch den Diskurs jetzt über die sozialen Pfeiler, und keiner weiß genau, was dahinter steckt. Und die Taten folgen nie den Worten. Und so können wir Europa den Bürgern nicht wieder näherbringen. Deshalb glaube ich, dass man, wenn man jetzt über soziale Pfeiler redet, auch dieses Thema der Mitbestimmung in diesen sozialen Pfeiler integrieren muss. Und nicht nur als Absichtserklärung. Weil Absichtserklärungen sind nicht mal das Papier wert, auf dem sie geschrieben sind. Wir müssen einen sozialen Pfeiler rechtskräftig machen, sonst hat ein sozialer Pfeiler in Europa eigentlich keinen Sinn, und hat auch keinen Wert.
Ja, wir sind in einer Zeit des großen Umbruchs. Und wir müssen darüber nachdenken, wie wir Mitbestimmung neu erfinden. Weil die Wirtschaft sich neu erfindet. Wir hatten vor einigen Monaten am Ende der Luxemburgischen Präsidentschaft, und ich sehe einige, die an dieser Konferenz teilnahmen, eine große Diskussion über die neue digitale Wirtschaft, die Industrie 4.0. Wir müssen natürlich die Mitbestimmung und auch das Statut der Lohnempfänger, man spricht ja jetzt immer weniger über Lohnempfänger und immer mehr über Selbstständige respektiv Scheinselbständige, anpassen. Wir müssen zusammen mit den Gewerkschaften über die digitalen Plattformen diskutieren, über die Rechte der Crowd-Workers, wo eben Mitbestimmung ausgehebelt wird. Und das ist die große Herausforderung der kommenden Jahre. Nicht das zu schwächen, was eigentlich gut funktioniert. Sondern die Zukunft zu planen, damit wir das europäische Sozialmodell erhalten. Und dies müsste eigentlich die Kommission beschäftigen und nicht der Versuch, das Rad des sozialen und demokratischen Fortschritts wieder zurückzudrehen.
Vielen Dank!
Weiterführende Informationen
-
EuGH-Pressemitteilung vom 18. Juli 2017 (pdf)
-
Schlussantrag des EuGH Generalanwalts (04.05.2017)
-
Pressemitteilung EuGH: Schlussantrag des Generanwalts (4.5.2017)
-
"Europäische Kommission - Erklärung vor dem EuGH" (PM vom 24.1.2017)
-
Beitrag im Magazin Mitbestimmung zur Anhörung vor dem EuGH
-
"Mitbestimmung: Große deutsche Errungenschaft“ (DGB-Vorsitzender Reiner Hoffmann und BDA-Präsident Ingo Kramer im Handelsblatt, 26.9.2016)
-
Arbeitnehmerbeteiligung in Europa: Neue Perspektiven oder drastische Einschränkung durch den EuGH? (PM vom 22.9.2016)
-
HBS Digital Press Pack (EN)
-
Mitbestimmung
„Europa braucht die Stimme der Arbeit“
-
Video-Interviews
"Mitbestimmung ist in Europa weit verbreitet"
Mitbestimmung mit EU-Recht vereinbar?
Lasse Pütz und Sebastian Sick (2017): Juristische Kommentierung zu den Schlussanträgen des Generalanwalts im Verfahren Erzberger/TUI. Mitbestimmungs-Report 34
Bernhard Johann Mulder (2017) The law concerning the election of employees 'representatives in company bodies. Report in light of the CJEU case Konrad Erzberger v TUI AG, C 566/15. Mitbestimmungs-Report Nr. 29
Rüdiger Krause (2016): Die Stellungnahme der EU-Kommission zum TUI-Fall - Ein kritischer Kommentar. Mitbestimmungs-Report 23
Lasse Pütz und Sebastian Sick (2015): Nagelprobe EuGH - Mitbestimmung untergraben oder festigen? - EuGH prüft europarechtliche Konformität der deutschen Mitbestimmung. Mitbestimmungs-Report 17