Wettbewerb

Szenario I: WETTBEWERB

Teilhabehemmendes Umfeld und Individualisierung der Mitbestimmung

Die Gesellschaft ist allgemein unpolitischer geworden. Die frühen 20er Jahre sind durch den Rückzug ins Private geprägt, die Orientierung auf die eigenen Belange und einen guten Lebensstandard. Flexibilität und Mobilität sind das Gebot der Stunde. In verschiedenen Karriere-Netzwerken pflegen die Menschen ihr berufliches Image, indem sie ihre erworbenen Qualifikationen offensiv präsentieren und entsprechend der Ergebnisse ihrer individuellen Marktforschung kontinuierlich anpassen.

Innerhalb der Belegschaften der Unternehmen nimmt die Vielfalt weiter zu, ebenso wie die unterschiedlichen Formen von Vertragsverhältnissen, die in der Regel direkt zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber ausgehandelt werden. Wer motiviert ist und Mehrwert bringt – so die Überzeugung der meisten –, wird dafür auch gut entlohnt, kann bei seinen Arbeitsbedingungen mitentscheiden und hat Aufstiegschancen. Die zunehmende Ungleichheit wird als Ausdruck der Vielfalt innerhalb der Arbeitswelt gesehen, Arbeitslosigkeit häufig mit persönlichem Versagen gleichgesetzt.

In der immer stärker transnational vernetzten Unternehmenswelt wird es für die etablierten Strukturen der Mitbestimmung in Deutschland schwieriger, Einfluss zu nehmen – allzu oft fehlt schlicht das Gegenüber. Zudem ist der politische Rückhalt für die Mitbestimmung schwächer geworden. Auch wird es schwieriger, die Anforderung der Kapitalmärkte, kurzfristig hohe Umsatzziele und Gewinnmargen zu erreichen, mit einer nachhaltigen Unternehmensentwicklung in Einklang zu bringen.

Die Zahl der Unternehmen, die ausschließlich mit Freelancern arbeiten, steigt vor allem im Dienstleistungsbereich und in den Kreativbranchen stetig an. Aber auch im produzierenden Gewerbe wird immer mehr auf Werkvertragsbasis gearbeitet – egal ob es um die Entwicklung der nächsten Produktgeneration, die Instandhaltung und Reinigung der Produktionsanlagen oder nur den Pförtnerjob geht.

Der gewerkschaftliche Organisationsgrad der Arbeitnehmer sinkt ins Bodenlose. Nur noch in den großen Unternehmen einiger Branchen und im öffentlichen Sektor gelingt es den Gewerkschaften, überbetriebliche Tarifabschlüsse zu erzielen. In anderen Bereichen bleiben nur diejenigen Gewerkschaften und Interessenverbände im Spiel, die für ihre Mitglieder einen spürbaren konkreten Mehrwert erbringen können.

Einzelne Berufsgruppen organisieren sich in kleinen, aber schlagkräftigen Berufsgewerkschaften, um ihre Interessen besser durchsetzen zu können. In immer mehr Branchen konkurrieren diese mit harten Bandagen um Mitglieder. Verlierer der Entwicklung sind diejenigen, die nur wenig Verhandlungsmacht in die Waagschale werfen können. Denn was eine einflussreiche Gruppe in einem Unternehmen für sich herausschlagen kann, muss in der Regel bei anderen Teilen der Belegschaft oder bei den Zulieferfirmen eingespart werden, damit das Unternehmen wettbewerbsfähig bleibt.

Statt einheitlicher Lösungen „für die Fläche“ gewinnen pragmatische Lösungen auf betrieblicher Ebene an Bedeutung. Betriebsräte müssen immer häufiger selbst über Entlohnung und Arbeitsbedingungen verhandeln. Das hat zur Folge, dass das Beziehungsgefüge zwischen Betriebsräten und Unternehmensführung vielerorts konfliktreicher wird. Druck entsteht für viele Betriebsräte auch durch den sinkenden Rückhalt innerhalb der Belegschaft.

Je weniger funktionierende Strukturen der kollektiven Mitbestimmung zur Verfügung stehen, desto mehr müssen sich die Menschen im Arbeitsleben selbst um ihre Belange kümmern. Und je mehr Dinge man selbst in die Hand nimmt, desto stärker ist man mit seinen eigenen Angelegenheiten ausgelastet, sodass weniger Zeit und Energie zur Verfügung stehen, um sich kollektiv zu engagieren. So verstärkt sich die Entwicklung zunehmend selbst.

Im globalen Vergleich gehört Deutschland nach wie vor zu den sehr wohlhabenden Staaten, und vielen geht es materiell gut. Die Aussicht auf einen hohen Lebensstandard lockt weiterhin viele Menschen aus dem Ausland an – hier kann man etwas erreichen und hat Aufstiegschancen. Aber auch die Spaltung zwischen Reich und Arm, zwischen Menschen mit und ohne Bildungschancen, zwischen Teilhabe und Ausgrenzung hat neue Ausmaße erreicht. Und nicht wenige müssen für sich persönlich erfahren, dass die Grenze zwischen individueller Freiheit und Vereinzelung fließend ist.

Die Arbeitswelt ist rauer und fordernder geworden – aber das trifft auch allgemein auf das Zwischenmenschliche in der Gesellschaft zu. Für große Gesellschaftsentwürfe, ein solidarisches Miteinander oder das gemeinsame Eintreten für eine bessere Zukunft fehlt schlicht die Energie.

Im Jahr 2035 fragen sich immer mehr Menschen in Deutschland: „Bin ich und bleibe ich stark genug?“

  • Was sind die Folgen, wenn Mitbestimmung fast nur noch unter dem Gesichtspunkt des ökonomischen Nutzens (für das Unternehmen) bzw. des individuellen Kosten-Nutzen-Kalküls (für den einzelnen Arbeitnehmer/das Gewerkschaftsmitglied) bewertet wird?
  • Wie geht man als Arbeitnehmervertreter damit um, wenn die Interessen der Mitglieder bzw. Betriebsangehörigen, für die man handelt, in ein Spannungsverhältnis zu den Interessen der Beschäftigten in anderen Unternehmen oder der Allgemeinheit geraten?
  • Wie kann man trotz einer zunehmend komplexen und transnationalen Struktur von Unternehmen Einfluss auf diese nehmen? Wie bekommt man Zugriff auf die Ebenen, wo die wirklich wichtigen Entscheidungen getroffen werden (z. B. bei der Konzernmutter im Ausland oder beim Auftraggeber statt beim „Sub-sub-Unternehmer“)?
  • Wie wirken sich der zunehmende Wettbewerb und die steigende Konkurrenz auf den Zusammenhalt innerhalb der Belegschaft aus und wie kann man ein gegenseitiges Ausspielen verhindern (z. B. Stammbelegschaft versus Leiharbeitnehmer oder Standort A versus Standort B)? Wie kann man auf transnationaler Ebene zusammenarbeiten, wenn man gleichzeitig im direkten Standortwettbewerb miteinander steht?
  • Wie organisiert man Solidarität in einer hochgradig individualisierten Welt? Was macht der Einzelne, wenn wirkungsvolle kollektive Systeme der Interessenvertretung und der sozialen Absicherung in seiner Lebens- und Arbeitswelt nicht mehr zur Verfügung stehen?
Illustration Szenario #Peak Performance
© HBS

Szenario I: #Peak Performance

Die Digitalisierung wird vorangetrieben, um Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Leistungsdruck und die permanente Optimierung der eigenen Performance prägen den Arbeitsalltag. Chancen und Risiken liegen oft dicht beieinander, die persönliche Verhandlungsmacht orientiert sich am Marktwert und die Polarisierung der Beschäftigungsverhältnisse nimmt weiter zu. In immer mehr Bereichen kommt es zum Wettbewerb von Mensch und Maschine.

Szenario "WETTBEWERB"

Wachstumsorientierung und der zunehmende Wettbewerbsdruck führen zur Vermarktlichung von Arbeitnehmervertretungen. Mitbestimmung „muss sich rechnen“.

Wordle Wettbewerb

Verantwortung

Szenario II: VERANTWORTUNG

Vielfalt der Beschäftigungsverhältnisse in teilhabeförderndem Umfeld

Die Vielfalt der Lebensentwürfe und Bedürfnisse der Erwerbstätigen nimmt weiter zu. Entsprechend vielfältiger gestalten sich die vertraglichen Beschäftigungsverhältnisse – Anfang der 20er Jahre gleicht kaum ein Arbeitsvertrag noch dem anderen. Für die herkömmlichen Strukturen und Akteure der Mitbestimmung wird es angesichts dieser Vielfalt zunehmend schwierig, individuelle Interessen kollektiv zu vertreten. Direkte Formen der Mitbestimmung am Arbeitsplatz gewinnen weiter an Bedeutung und entsprechen auch dem Selbstverständnis der Mehrheit der Beschäftigten. Gleichwohl ist dies nicht die Welt der Spezialisten, Stars und Koryphäen. Die meisten Aufgaben erfordern Teamplayer und die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und seine Stärken in ein größeres Ganzes einzubringen – quasi über den Tellerrand hinweg anschlussfähig zu sein.

Ungleichheit wird als Ausdruck der gesellschaftlichen Vielfalt zwar durchaus anerkannt – aber nur innerhalb einer gewissen Bandbreite, die die Leistung des Einzelnen achtet und die persönliche Teilhabe und Entfaltung sichert. Der Gesetzgeber übernimmt zunehmend Aufgaben, die vormals in der Hand der Tarifpartner lagen und auch – wie im Fall des für alle Branchen und Beschäftigungsformen gültigen Mindestlohns – offensiv von den Gewerkschaften eingefordert wurden. Auf EU-Ebene vollzieht sich in Sachen Arbeitsmarktpolitik ebenfalls ein Kurswechsel. Mit der Reregulierung vieler Bereiche wird dem Einfluss des Staates (wieder) größere Bedeutung zugemessen. Eine solide materielle Grundsicherung und verlässliche Normen für die Arbeitswelt erleichtern auch den Strukturwandel hin zu einer ökologisch nachhaltigen Form des Wirtschaftens.

Vor allem Betriebsräte, aber auch die Gewerkschaften profitieren von höheren staatlichen Standards. So verringert sich unter anderem das Konfliktpotenzial in den Arbeitsbeziehungen. Zugleich fühlen sie Verunsicherung, weil sie faktisch an Gestaltungskompetenz verlieren. Sie müssen ihre Rolle neu interpretieren. Schrittweise setzt sich eine neue Arbeitsteilung durch.

Betriebsräte sorgen dafür, dass gesetzliche Standards im Arbeitsalltag beachtet werden. Daneben gewinnen individuelle Betriebsvereinbarungen weiter an Bedeutung – die Vielfalt von Lösungen wird größer. Zudem entwickeln und organisieren Betriebsräte neue Formen des projektförmigen Engagements, das oft weit über das Werksgelände hinausreicht. So wird auch die soziale Verankerung der Unternehmen gestärkt.

Die Gewerkschaften üben weiterhin ihre Rolle in der Beratung bei Gesetzgebungs­vorhaben aus. Bei Fragen, die Interessenkonflikte zwischen Arbeitnehmergruppen bzw. Belegschaften verschiedener Unternehmen berühren, werden Gewerkschaften zunehmend zu Mediatoren, die zum Beispiel bei Standortverlagerungen oder Umstrukturierungen – auch über Branchengrenzen hinweg – vermitteln. Ein weiteres Standbein ist die Vertretung von Arbeitnehmern in kleineren Unternehmen, in denen es keinen Betriebsrat gibt. Während die Fachabteilungen der Gewerkschaften an Bedeutung gewonnen haben, ist die Beteiligung an den Wahlen für die ehrenamtlichen Gewerkschaftsgremien jedoch weiter rückläufig.

Im Jahr 2035 ist die Arbeitswelt in Deutschland durch vielfältige Unternehmensformen und Arbeitsverhältnisse geprägt. Insgesamt ist das Qualifikationsniveau der Belegschaften deutlich angestiegen, was zusammen mit dem demografischen Wandel und der stabilen wirtschaftlichen Lage zu einer verbesserten Verhandlungsposition der Erwerbstätigen beigetragen hat. Das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und den Interessenvertretungen der Arbeitnehmer ist insgesamt kooperativer geworden. Dezentrale Entscheidungsstrukturen haben zu einer Stärkung von direkter Mitbestimmung am Arbeitsplatz geführt. Zum Beispiel können die Beschäftigten in vielen Unternehmen nun selbst entscheiden, in welchen Projektteams sie mitarbeiten wollen, oder ihre Vorgesetzten für einen festgesetzten Zeitraum wählen. Arbeit hat einen zweifachen Wertewandel erfahren: zum einen hin zu mehr individueller Verantwortung in der konkreten Ausgestaltung von Arbeitsabläufen; zum anderen haben Tätigkeiten, die nicht in die Sphäre der Erwerbsarbeit fallen, aber für eine lebendige und intakte Gesellschaft nicht minder wichtig sind, eine deutliche Aufwertung erfahren.

Arbeit bedeutet in der Regel Teamarbeit, die sich in wechselnder Zusammensetzung, aber mehr oder weniger stabilen Netzwerken vollzieht. Es gibt eine relativ hohe Fluktuation zwischen Lebensphasen mit und ohne Erwerbstätigkeit. Letztere werden nicht mehr als Arbeitslosigkeit und persönliches Scheitern stigmatisiert, sondern als „rekreative Auszeit“ angesehen und genutzt. Die Mitwirkung an Projekten und Initiativen im Feld der Arbeitsgestaltung sowie für ein besseres Betriebsklima gelten ebenso als „Karrierebonus“ für den nächsten Verantwortungsbereich, den man übertragen bekommt, wie gemeinnütziges Engagement außerhalb des Unternehmens.

Die hohe Flexibilität am Arbeitsmarkt wurde ermöglicht und flankiert durch eine allgemeine Grundsicherung in Verbindung mit einem im internationalen Vergleich hohen Niveau an staatlicher Regulierung der Arbeitsstandards. Denn Wettbewerbsfähigkeit wird im Deutschland des Jahres 2035 nicht mehr über die Senkung von Kosten gesichert, sondern über gut ausgebildete Arbeitnehmer, gegenseitiges Vertrauen und die Motivation der Menschen, sich mit guter Arbeit einzubringen.

  • Wie kann der Wunsch nach mehr individueller Autonomie und Selbstbestimmung im Arbeitsleben in der Praxis umgesetzt werden?
  • Wie begegnen Arbeitgeber dem Bedürfnis vieler Arbeitnehmer nach mehr direkter Mitbestimmung? Wie können sich direkte und kollektive Formen der Mitarbeiterbeteiligung sinnvoll ergänzen?
  • Was brauchen Menschen in einer Arbeitswelt, die durch ein hohes Maß an Autonomie und Selbstverantwortung geprägt ist, um sich sicher zu fühlen und Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten? Wie können entsprechende Rahmenbedingungen geschaffen und individuelle Fähigkeiten gestärkt werden?
  • Wie können Netzwerke gestärkt werden, in denen Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammenwirken, um Konflikte konstruktiv zu bearbeiten?
  • Wie vermittelt man zwischen den unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen einer „vielfältigen Belegschaft“?
  • Wie kann gewährleistet werden, dass bei dezentraler Aushandlung die Anerkennung von Leistung durch Entgelt als angemessen und gerecht empfunden wird?
  • Wie kann der Staat verlässliche und hinreichende Standards setzen, um für den Einzelnen ein gutes Schutzniveau zu gewährleisten? Und in welchen Bereichen des Arbeitslebens sind solche Standards erforderlich?
Illustration Szenario #Peak Performance
© HBS

Szenario II: #Persönliche Entfaltung

Die Digitalisierung trägt zu mehr individuellen Gestaltungsspielräumen, Flexibilität und Vielfalt in der Arbeitswelt bei. Staatliche Standards sichern die Teilhabe, eine ausgewogene Verteilung der Früchte der Digitalisierung und verhindern Machtmissbrauch. Die Arbeitgeber-Reputation ist angesichts des begrenzten Arbeitskräfteangebots ein wichtiger Erfolgsfaktor für Unternehmen.

Szenario "VERANTWORTUNG"

Selbstverantwortung und Autonomie gewinnen in der Arbeitswelt an Bedeutung – hoher individueller Einfluss bei der konkreten Gestaltung der Arbeitsabläufe und -umgebung.

Wordle Verantwortung

Fairness

Szenario III: FAIRNESS

Kollektive Vertretung von Arbeitnehmerinteressen als treibende Kraft für eine teilhabefördernde Gesellschaft

Anfang der 20er Jahre haben die wachsenden Ungleichheiten bei immer mehr Menschen den Willen zur Veränderung gestärkt. Auch viele engagierte Akteure in den Gewerkschaften und Betriebsräten sind nicht mehr bereit, die Aushöhlung von Mitbestimmungsrechten und die Zunahme unsicherer, schlecht bezahlter Beschäftigungsverhältnisse weiter hinzunehmen. Es ist an der Zeit, aus der Defensive zu kommen.

Weil sich Gewerkschaften und Betriebsräte in den zurückliegenden Wirtschaftskrisen als wichtiger Partner bewährt haben, ist der politische Rückhalt für eine starke Mitbestimmung größer geworden. Tarifautonomie, Tarifeinheit und Sozialpartnerschaft werden durch den Gesetzgeber gestärkt. Betriebsräte und die Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten erhalten stärkere Mitsprache bei Restrukturierungsprozessen innerhalb des Unternehmens, bei Standortverlagerungen oder der Ausgliederung von Arbeit. Zudem werden die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Schaffung von Betriebsräten in kleinen und mittleren Unternehmen verbessert. Auch die Kompetenzen der Gewerkschaften werden ausgeweitet – so erhalten sie unter anderem das seit Langem geforderte „Verbandsklage­recht“, um besser gegen Missstände in Unternehmen vorgehen zu können.

Ein wichtiger Aspekt der Entwicklung ist ein weit gefasstes Solidaritätsverständnis der Arbeitnehmervertretungen. Dieses setzt nicht nur bei den Interessen der Stammbelegschaften an, sondern bezieht auch die Belange von Gruppen außerhalb der Arbeitswelt sowie das Ziel einer nachhaltigen Entwicklung mit ein. Durch diese Öffnung und die stärkere Präsenz in den gesellschaftspolitischen Diskursen gewinnt die Mitbestimmung als eine wichtige Ebene des demokratischen Lebens an Wertschätzung – aber auch aufgrund der positiven Erfahrungen, die viele Arbeitnehmer mit unterschiedlichen Ebenen der Mitbestimmung in ihrem Arbeitsalltag machen.

Der Wandel gewinnt an Kontur. Durch die gleichermaßen hohe Erwerbsbeteiligung von Frauen wie Männern wird das partnerschaftliche Modell in der Haushaltsführung und Kinderbetreuung zur Norm. Die gute Verfügbarkeit der oft betrieblich organisierten Kinderbetreuung ermöglicht es, dass die Beschäftigungsquote bei beiden Geschlechtern inzwischen bei rund 80 Prozent liegt. Für die Mehrzahl der Arbeitnehmer geht der Trend – abgesichert durch tarifliche Vereinbarungen – hin zu einer schrittweisen allgemeinen Arbeitszeitverkürzung. Die durchschnittliche Wochenarbeitszeit liegt nun in den meisten Branchen bei 30 bis 35 Stunden.

Immer mehr Unternehmen haben ein Interesse an funktionierenden Arbeitsbeziehungen und Tarifvereinbarungen, um Konflikte aus dem Unternehmen herauszuhalten. Um motivierte Mitarbeiter zu binden, hat gute Personalpolitik einen Bedeutungszuwachs erfahren. Dabei ändern sich auch die „Währungen“, die gute Arbeit ausmachen: Elternzeit statt Dienstwagen, Weiterbildung statt Gehaltsboni. Und Investoren und Rating-Agenturen beobachten mittlerweile sehr genau, wie ein Unternehmen seine Arbeitnehmer behandelt und ob es sie in Entscheidungen einbezieht. Ein Skandal wegen schlechter Arbeitsbedingungen oder der Versuch, eine Betriebsratsgründung zu verhindern, können schnell wertvolle Punkte kosten und potenzielle Investoren abschrecken.

War der europaweite Rechtsrahmen für die Mitbestimmung früher eher schwach ausgeprägt, wird er nun zu einem wichtigen Integrationsprojekt. Dies hat eine wesentlich engere Koordinierung der Tarifpolitik über nationale Grenzen hinweg zur Folge – zum Beispiel durch die zeitliche Synchronisierung von Tarifverhandlungen, die Beteiligung ausländischer Vertreter an den Verhandlungen sowie abgestimmte themenbezogene europäische Kampagnen.

Die Arbeitsteilung zwischen Betriebsräten bzw. Arbeitnehmervertretern auf Unternehmensebene einerseits und Gewerkschaften andererseits ist gut eingespielt, es besteht „Rollenklarheit“. Mitbestimmung ist fest verankert, und in den Belegschaften besteht Konsens darüber, dass man seine Interessen als Arbeitnehmer am besten und wirkungsvollsten gemeinschaftlich vertreten kann.

Die vormals starke Differenzierung und Vielfalt von vertraglichen Beschäftigungs­verhältnissen hat wieder abgenommen. Gleichbehandlung und einfache, transparente Standardverträge sind die Regel. Denn auch wenn nach wie vor viel von Individualisierung und Wahlmöglichkeiten die Rede ist, geht es den meisten im Grunde um ganz einfache Dinge: ein angemessenes Einkommen, einen sicheren Arbeitsplatz, Tätigkeiten, die nicht überfordern, Anerkennung, Austausch mit Kollegen, planbare Arbeitszeiten sowie genug Zeit für andere Bedürfnisse und Lebensbereiche. Fairness und Sicherheit im Arbeitsleben haben einen hohen Stellenwert. Auch Akademiker und Freiberufler sind inzwischen gerne Gewerkschaftsmitglied.

Im Jahr 2035 ist die Mitbestimmung eine wichtige Säule des demokratischen Miteinanders in Deutschland, weil viele Menschen offensiv für ihr Recht auf Gute Arbeit und eine nachhaltige Unternehmensführung eingetreten sind. Es ist gelungen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt trotz zunehmender Vielfalt zu stärken. Gemeinsam hat man es geschafft, Nachhaltigkeit und Wirtschaft miteinander zu versöhnen und den Strukturwandel ohne allzu große soziale Verwerfungen zu gestalten.

Wie wird die nächste Generation mit diesem Erbe umgehen?

  • Wie kann die Arbeitswelt wirkungsvoll demokratisiert werden? Wie lässt sich das Interesse an Mitbestimmung in der Arbeitswelt als wichtigem Element unserer Demokratie stärken?
  • Was heißt Fairness? Und wie kommt man zu einem Konsens darüber, was fair ist?
  • Wie können die Älteren besser eingebunden werden? Wie kann Mitbestimmung dazu beitragen, Interessenkonflikte zwischen den Generationen zu moderieren und zu kanalisieren?
  • Wie kann man mit den großen wirtschaftlichen Unterschieden innerhalb der EU umgehen? Wie kommen wir (trotzdem) zu einer europaweiten Identität und Solidarität?
  • Wie organisiert man sich europaweit in der tagtäglichen Praxis (Stichwort Eurobetriebsräte und Unternehmensmitbestimmung in Europäischen Aktiengesellschaften)?
  • Wie können Gewerkschaften anschlussfähiger werden für (andere) soziale Bewegungen? Wie werden sie als Plattform und Schnittstelle für unterschiedliche Akteure attraktiv?
  • Welchen Beitrag können Gewerkschaften und Akteure der Mitbestimmung zur Nachhaltigkeit von Unternehmen leisten? Was bedeutet ökonomische, soziale und ökologische Nachhaltigkeit?
  • Wie kann Mitbestimmung im Aufsichtsrat wirksam eingesetzt werden, um auch gesellschaftliche Ziele in Unternehmensentscheidungen stärker zu verankern, zum Beispiel wenn es um die Nachhaltigkeit von Produkten und Dienstleistungen geht?
IllIllustration Szenario #Zusammenhalt
© HBS

Szenario III: #Zusammenhalt

Die Digitalisierung vollzieht sich eingebettet in kollektiven Aushandlungsprozessen und demokratischen Unternehmens­strukturen. Vereinbarungen zwischen den Sozialpartnern tragen so maßgeblich dazu bei, dass der technologische Wandel und effiziente Produktionsweisen mit Beschäftigungssicherheit, guten Arbeitsbedingungen und individuellen Präferenzen Hand in Hand gehen.

Szenario "FAIRNESS"

Die Arbeitswelt wird demokratischer. Kollektive Interessenvertretungen gewinnen (wieder) an Bedeutung, um individuelle Handlungsspielräume zu vergrößern und faire Arbeitsbedingungen abzusichern.

Wordle Fairness

Kampf

Szenario IV: KAMPF

Teilhabehemmendes Umfeld und Wiedererstarken sozialer Bewegungen

„Lieber ein schlechter Job als gar keine Arbeit!“ Diesem Grundsatz folgend, werden in den 20er Jahren Arbeitsstandards und Mitbestimmungsrechte weiter flexibilisiert und Sozialleistungen abgesenkt. Dabei ist es kaum von Bedeutung, welche Regierung gerade am Ruder ist. Angesichts des globalen Wettbewerbsdrucks, wiederholter Krisen und großer Über­kapazitäten in verschiedenen Industrien, angesichts der zunehmenden Überlastung der Sozialversicherungssysteme und klammer öffentlicher Haushalte werden diese Maßnahmen als alternativlos hingenommen. Die Welt hat sich verändert, und es hat den Anschein, dass man selbst als Kollektiv den Kräften einer entgrenzten und krisenanfälligen Wirtschaft kaum noch etwas entgegensetzen kann. Längst hat die Mehrheit der Menschen das Vertrauen in die Politik verloren. Und nur noch wenige glauben, dass sich mit demokratischen Wahlen in diesem Land etwas verändern lässt.

Die Mitbestimmung und ihre Institutionen bestehen der Struktur nach zwar weiter, aber in der Sache haben Gewerkschaften, Betriebsräte und Arbeitnehmervertreter in den Aufsichtsräten immer weniger Einfluss. In der globalen Wirtschaft geben die dynamischen Ökonomien in Fernost in immer mehr Branchen den Takt an. Der mit der Digitalisierung ein­hergehende Abbau von Arbeitsplätzen ist historisch ohne Beispiel. Unternehmen entziehen sich der Verantwortung, diesen rasanten Strukturwandel sozial verträglich zu gestalten. Mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitet inzwischen für Niedrig­löhne. Auf EU-Ebene stehen Sparprogramme und Strukturreformen – und in der Folge nationalstaatliche Eigeninteressen – immer mehr im Vordergrund. Auch die qualifizierte Arbeitnehmerschaft verliert in diesen turbulenten Zeiten an Verhandlungsmacht. Wer sich gewerkschaftlich oder im Betriebsrat für die Belange der Kollegen einsetzt, geht ein hohes persönliches Risiko ein.

Gewerkschaften und Betriebsräte stemmen sich dennoch mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die zunehmende Verschlechterung der Arbeitsbedingungen. Der Ton in den Tarifverhandlungen wird schärfer, die Zahl der Streiktage höher. Nach vier Jahrzehnten Mitgliederschwund steigen die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften wieder an. Wenn man auch nur wenig ausrichten kann, so trifft man hier doch andere, denen es ähnlich geht und die die gleichen Sorgen haben: „Gemeinsam ist man weniger allein.“

Die Taktzahl der Demonstrationen gegen Sozialabbau und die systematische Verlet­zung von Arbeitnehmerrechten nimmt zu. Immer häufiger kommt es am Rande von Demonstrationen und Kundgebungen zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Erstmals seit den 1980er-Jahren greifen Unternehmen in der Folge von Streiks wieder zum Mittel der Aussperrung.  

Die Reaktionen auf prekäre Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatzverlust und Chancenlosigkeit sind unterschiedlich: Viele suchen Linderung in den billig zu habenden Stimmungsaufhellern oder tauchen in die virtuellen Welten ihrer Avatare ab. Bei anderen wird der anfängliche Frust darüber, aussortiert worden zu sein, zu Wut – weil sie ihre Situati­on nicht selbst verschuldet haben, ihren Kindern keine Chancen mehr bieten können und wahrnehmen, dass es immer mehr Menschen gibt, denen es ähnlich geht. Und es entstehen neue Gemeinschaften.

Zunächst tut man sich im lokalen Umfeld zusammen. Oft geht es um ganz pragmatische Dinge, zum Beispiel eine Rechtsberatung für ein Verfahren vor dem Arbeitsgericht zu vermitteln, eine Kiezküche zu betreiben oder einen Quartierstreffpunkt einzurichten. Aus solchen Initiativen und Zusammenschlüssen wachsen größere Projekte. Über Netzwerke und Plattformen werden solidarische Formen des Wirtschaftens und Genossenschaf­ten entwickelt und miteinander verbunden. Und was funktioniert, verbreitet sich schnell. So werden aus lokalen Gemeinschaf­ten und Initiativen zunehmend landesübergreifende, manchmal sogar europaweite oder globale Netzwerke. Auch die Angst, sich kollektiv für seine Interessen einzu­setzen, wird schwächer. „Gemeinsam können wir etwas erreichen!“ Erste Erfolgs­beispiele treten an die Stelle bloßer Hoffnung.

Im Jahr 2035 sehen die Gewerkschaften ihre Hauptaufgabe längst nicht mehr in Tarifverhandlungen, sondern als treibende Kraft für den sozialen Wandel. Es geht darum, offensiv für Veränderungen einzutreten und sie, wo möglich, auch zu leben. Arbeitnehmervertretungen in den Betrieben üben Druck aus, um Missstände anzugehen. Kreative Kollektive erkunden neue nachhaltige Formen des Wirtschaftens. Soziale Netzwerke gewinnen mit unterschiedlichen Formen von Protest und Initiativen zunehmend Einfluss auf der politischen Bühne. So wurde aus Gemeinschaften, die zunächst aus Wut über die bestehenden Verhältnisse und in der Folge zur Verbesserung des engeren Umfelds gewachsen sind, eine vielfältige politische Bewegung – von Menschen, die für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen auf die Straße gehen und für eine gerechtere Gesellschaft eintreten.

Immer mehr Menschen stellen die Systemfrage. Sie wissen, welche Missstände sie überwinden wollen – aber wie weit das „neue Wir“ reicht und wie das „mehr Miteinander“ als Gesellschaftsform aussehen wird, ist erst in groben Konturen zu erkennen.

  • Wie können soziale Errungenschaften und Mitbestimmungsrechte auch bei wirtschaftlich schwieriger Lage behauptet werden („Das können wir uns im Moment nicht leisten“)?
  • Wenn der Druck weiter zunimmt und die Arbeitsbeziehungen konfrontativer werden: Welche Instrumente für den Kampf um essenzielle Arbeitnehmerrechte haben wir im „Werkzeugkasten“?
  • Wer sind mögliche Bündnispartner?
  • Wenn wir vom Kollektiv sprechen: Wie groß ist unser „Wir“? Wer gehört dazu, wer nicht?
  • Wie lässt sich in wirtschaftlich, politisch und sozial angespannten Zeiten tragfähige Solidarität herstellen? Was kann man einem zunehmenden Gefühl der Ohnmacht und Resignation entgegensetzen und wie können Menschen mobilisiert werden, sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen?
  • Was können Gewerkschaften und Betriebsräte für Menschen tun, die faktisch keinen Kontakt mehr zur „normalen“ Erwerbsarbeitswelt haben? Wie kann man sie erreichen, wenn nicht am Arbeitsplatz?
  • Wie geht man damit um, wenn immer mehr Menschen Gewalt als legitimes Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen ansehen – und auch einsetzen?
  • Welche Möglichkeiten haben Erwerbstätige, ihre Arbeitsplätze selbst zu schaffen? Welche herkömmlichen Modelle (z. B. Genossenschaften) und welche neuen sind hier denkbar?
  • Inwieweit bietet die Mitbestimmung noch ein geeignetes Dach für Teilhabe und sozialen Ausgleich? Wie können neue Formen des kollektiven Miteinanders aussehen?
Illustration Szenario #Reset
© HBS

Szenario IV: #RESET

Digitalisierung und Automatisierung führen nicht nur zu einem drastischen Verlust an Arbeitsplätzen, sondern auch zur Ausbreitung prekärer, inhumaner Arbeitsbedingungen. Das erzeugt massiven Widerstand und Konflikte, aus denen schließlich neue Ansätze von kollektivem Handeln und Solidarität sowie alternative Wirtschaftskonzepte hervorgehen.

Szenario "KAMPF"

Krisen und zunehmende Verteilungskonflikte führen zu antagonistischen Arbeitsbeziehungen. Alternative Formen des Wirtschaftens und neue Formen von Solidarität entstehen.

Wordle Kampf
Cover Mitbestimmung 2035

Arbeiten mit den Szenarien

Wir haben auf einer Übersichtsseite weiterführende Informationen zusammengestellt. Dort findet man u.a. Anregungen, wie man mit den Szenarien arbeiten kann, weitere Infos rund um das Projekt Mitbestimmung 2035, Hinweise auf Szenario-Veranstaltungen der Hans-Böckler-Stiftung sowie Ansprechpartner für Szenario-Interessierte.

Das Szenario-Projekt „Mitbestimmung 2035“ ist ein Projekt der Mitarbeiterinnen  und Mitarbeiter der Abteilung Mitbestimmungsförderung der Hans-Böckler-Stiftung. Konzipiert und begleitet wurde der Prozess vom Institut für prospektive Analysen (IPA).

Teilnehmende:
Eva Ahlene, Claudia Beer, Sebastian Campagna, Irene Ehrenstein, Oliver Emons, Melanie Frerichs, Jan Giertz, Fred Gockeln, Gudrun Huggins, Norbert Kluge, Ute Lammert, Manuela Maschke, Theresa Mattheß, Helga Nakaten, Jutta Poesche, Andreas Priebe, Lasse Pütz, Gisela Scheumann, Lilo Schüller, Alexander Sekanina, Sebastian Sick, Angela Siebertz, Michael Stollt, Tamara Topaktas, Stefanie Ummelmann, Marion Weckes, Nils Werner

Kernteam/ Moderation des Projekts:
Irene Ehrenstein, Oliver Emons, Melanie Frerichs, Norbert Kluge, Ute Lammert, Michael Stollt (HBS); Sascha Meinert, Shiva von Stetten (IPA)

Szenarien auf der Grundlage der Ergebnisse von:

  • Online-Fragebogen (Februar bis März 2014)
  • Interviews (26. bis 27. März 2014) 
  • Szenario-Workshop (19. bis 21. Mai 2014) 
  • Szenario-Workshop (30. Juli bis 1. August 2014) 
  • Szenario-Workshop (17. bis 18. November 2014)

Texte:

  • „Das Projekt“: Norbert Kluge 
  • „Die Szenarien“,  „Arbeiten mit den Szenarien“ und „Entstehungsprozess der Szenarien“: Sascha Meinert

Weitere Information zum Projekt und Ansprechpartner

Aus Gründen der Lesbarkeit haben wir in der Darstellung der Szenarien auf geschlechtsneutrale Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich sind jeweils Männer wie Frauen gleichermaßen gemeint.