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20 Jahre Europäische Aktiengesellschaft

4 von 5 großen SE vermeiden paritätische Mitbestimmung

Die Europäische Aktiengesellschaft wird 20 Jahre alt – doch das ist kein Grund zu feiern. In Deutschland sind inzwischen 107 Unternehmen mit mehr als 2.000 inländischen Beschäftigten registriert: Doch 86 dieser SE vermeiden die paritätische Mitbestimmung.

Die Europäische Aktiengesellschaft erfreut sich weiterhin zunehmender Beliebtheit. Insgesamt gibt es in der EU derzeit etwa 3.400 Gesellschaften in der Rechtsform SE, wobei 758 davon operativ tätig sind, also mindestens fünf Arbeitnehmer:innen beschäftigten. Bemerkenswert ist, dass allein 424 dieser 758 Unternehmen ihren Sitz in Deutschland haben.

Die Zahl großer SE steigt – und damit die Vermeidung der Mitbestimmung

Fiolie MB-Vermeidung
Grafik: Vom Ladenhüter zum Liebling der Mitbestimmungsvermeidung?

Von den 424 im Juli 2021 aktiven deutschen SE haben 107 bereits mehr als 2.000 inländische Beschäftigte. Hätten diese Unternehmen die Rechtsform einer deutschen Aktiengesellschaft, könnten Arbeitnehmer:innen im Aufsichtsrat paritätisch mitbestimmen. Doch das deutsche Mitbestimmungsgesetz erfasst die Europäische Aktiengesellschaft nicht. So kommt es, dass nur 21 der 107 großen SE einen Aufsichtsrat haben, der zur Hälfte mit Arbeitnehmervertreter:innen besetzt ist – so wie es in den 211 AG mit mehr als 2.000 Beschäftigten der gesetzliche Normalfall ist.

Das Ausmaß der Mitbestimmungsvermeidung zeigt sich deutlich: 86 der 107 SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten im Inland haben keinen paritätisch besetzten Aufsichtsrat – 4 von 5 großen SE vermeiden so die paritätische Mitbestimmung von Arbeitnehmervertreter:innen im Aufsichtsrat. Nach der Analyse des I.M.U. sind davon bereits mehr als 300.000 Beschäftigte betroffen (MB-Report 58, S. 15)

Folie MB-Vermeidung
Grafik: Mitbestimmungsvermeidung

Einmal ohne Mitbestimmung, immer ohne Mitbestimmung

Die SE soll eigentlich dazu dienen, grenzüberschreitend tätigen Unternehmen die Arbeit zu erleichtern. Doch zeigt eine aktuelle Untersuchung des I.M.U., dass ein Viertel (21 von 83 , ohne Berücksichtigung der SE & Co. KG/KGaA Konstruktionen) der SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten ganz überwiegend oder ausschließlich im Inland tätig sind. 

Das Problem hat zwei Faktoren: 

  • Zum einen finden die deutschen Mitbestimmungsgesetze auf die SE keine Anwendung. Anders als bei einer AG oder GmbH, in denen Arbeitnehmer:innen ab 501 bzw. 2.001 Beschäftigten ein Drittel bzw. die Hälfte der Mitglieder des Aufsichtsrats wählen, wird die Mitbestimmung in der SE verhandelt. 
  • Zum anderen besteht das Statut, das bei Gründung festgeschrieben wurde, dauerhaft fort. Wachsende Unternehmen, die eine Mitbestimmung im Aufsichtsrat vermeiden oder „einfrieren“ wollen, wechseln oftmals dann zur Rechtsform SE, wenn sie sich den Schwellenwerten der Mitbestimmungsgesetze nähern. 

Eine AG beschäftigt regelmäßig 470 Arbeitnehmer:innen, wobei die Zahl der Beschäftigten steigend ist. Zu diesem Zeitpunkt besteht noch kein mitbestimmter Aufsichtsrat in der AG. Will das Unternehmen diesen Zustand beibehalten, so kann es die Rechtsform zur SE wechseln. Für die Verhandlungen über das Mitbestimmungsstatut zwischen der Leitung und Vertreter:innen der Beschäftigten gilt das sog. vorher-nachher-Prinzip. Demnach bleibt das Ausmaß an Mitbestimmung bestehen, was zum Zeitpunkt des Rechtsformwechsels bestanden hat. Für diese zur SE umgewandelte AG wäre der Aufsichtsrat weiterhin frei von Arbeitnehmervertreter:innen. Das ändert sich auch nicht, wenn die SE später mehr als 500 oder mehr als 2.000 Beschäftigte hat. 

Eine AG beschäftigt regelmäßig 1.800 Arbeitnehmer:innen, sodass aufgrund des Drittelbeteiligungsgesetzes der Aufsichtsrat zu einem Drittel mit Arbeitnehmervertreter:innen besetzt ist. Strebt diese AG nun einen Formwechsel zur SE an, so können die Vertreter:innen der Beschäftigten in den Verhandlungen mit der Leitung über das Mitbestimmungsstatut maximal die Drittelbeteiligung sichern. Diese wird dann „eingefroren“, da auch hier ein späteres Überschreiten des Schwellenwerts von 2.000 Arbeitnehmer:innen keine Auswirkung mehr auf die Unternehmensmitbestimmung hat. 

Hat eine SE einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, so handelt es sich üblicherweise um ein Unternehmen, das bereits vor dem Rechtsformwechsel paritätisch mitbestimmt war. Hinzu kommen SE als Tochterunternehmen großer paritätisch mitbestimmter Konzerne, in denen die Mitbestimmungskultur beidseitig gepflegt wird. Dass 4 von 5 großen SE die paritätische Mitbestimmung vermeiden, zeigt den Handlungsbedarf auf. Nach Einschätzung des I.M.U. ist es geboten, dem Vermeiden und „Einfrieren“ durch eine Reform des SE-Beteiligungsgesetzes vorzubeugen. Erforderlich ist, dass ein Überschreiten der Schwellenwerte der deutschen Mitbestimmungsgesetze die Pflicht zu Neuverhandlungen über die Mitbestimmung in der SE auslöst. Nur so kann den Entwicklungen des Unternehmens angemessen Rechnung getragen werden. 

DAX 40: Nur 4 von 14 SE sind paritätisch mitbestimmt

Mit der Erweiterung des DAX von 30 auf 40 Unternehmenswerte sind 6 weitere SE in den wichtigsten deutschen Börsenindex aufgestiegen. Nur 4 von jetzt insgesamt 14 SE im DAX-40 (Allianz, BASF, E.ON, SAP) haben einen paritätisch mitbestimmten Aufsichtsrat, wobei zu sehen ist, dass diese Unternehmen schon vor dem Rechtsformwechsel einen entsprechend mitbestimmten Aufsichtsrat hatten. Die weiteren 10 SE haben entweder keine Vertreter:innen der Beschäftigten im Aufsichtsrat oder verfügen wenigstens über eine Drittelbeteiligung. Mit Deutsche Wohnen, Vonovia und Zalando vermeiden 3 SE die paritätische Mitbestimmung, wobei die beiden Wohnungskonzerne keinerlei Arbeitnehmervertreter:innen im Aufsichtsrat haben. Bei den DAX-Aufsteigern Brenntag und Hello Fresh sitzen ebenfalls keinerlei Verteter:innen der Belegschaft im Aufsichtsrat. Zwar beschäftigen sie derzeit noch nicht mehr als 2.000 Arbeitnehmer:innen im Inland, standen beim Rechtsformwechsel aber kurz vor der Schwelle des Mitbestimmungs- bzw. Drittelbeteiligungsgesetz, weshalb sie als präventive Vermeider der paritätischen Mitbestimmung einzuordnen sind. 

Bemerkenswert ist außerdem, dass die verbindliche gesetzliche Geschlechterquote für Unternehmensorgane nur gilt, wenn das Unternehmen paritätisch mitbestimmt ist. Für die DAX 40-SE bedeutet das: Allein die 4 bereits paritätisch mitbestimmten SE unterfallen der Quote. Bei den übrigen 10 SE ist das Mitbestimmungsstatut – unabhängig von der Zahl ihrer Beschäftigten – bereits jetzt festgeschrieben, sodass sie der Quote dauerhaft ausweichen können.

Viele Mitbestimmungsvermeider in Familienhand

Grafik: SEs* mit mehr als 2.000 inländischen Beschäftigten

Die Analyse des I.M.U. liefert schließlich interessante Detailergebnisse zum Profil großer SE:

  • Ein Viertel aller deutschen SE mit mehr als 2.000 Arbeitnehmer:innen (20 von 83, da die Sonderrechtsform SE & Co. KG/KGaA nicht mitgerechnet wird) ist ausschließlich oder überwiegend im Inland aktiv, obgleich die SE eigentlich für grenzüberschreitend tätige Unternehmen gedacht ist. Alle diese 20 Unternehmen vermeiden die paritätische Mitbestimmung.
SE Folie
Grafik: Quote der Mitbestimmungsvermeidung bei SE mit mehr als 2000 Beschäftigten
  • 45 von 83 SE mit mehr als 2.000 Beschäftigten im Inland sind in Familienhand, wobei 44 von 45 die paritätische Mitbestimmung vermeiden.*
  • 22 von 83 SE mit mehr als 2.000 Arbeitnehmer:innen sind börsennotiert, die Hälfte davon vermeidet die paritätische Mitbestimmung. 
  • Viele große SE aus dem Gesundheitssektor, Personaldienstleistungen und der Wohnungswirtschaft vermeiden die paritätische Mitbestimmung. Beispiele sind Alloheim Senioren-Residenzen, Schön Kliniken, Kötter, Vonovia oder Deutsche Wohnen.
* Familienunternehmen sind solche, deren Anteile mehrheitlich in den Händen einer natürlichen Person, einer oder zweier Familien oder einer Familienstiftung mit Familienmitgliedern liegen.

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