BGH-Urteil zu Leiharbeit
Mehr mitbestimmte Aufsichtsräte
Leiharbeitnehmer zählen mit, wenn es darum geht, ob ein Unternehmen die Schwellenwerte für Mitbestimmung erreicht. Entscheidend ist die Zahl der Arbeitsplätze im Unternehmen, die länger als sechs Monate mit Leiharbeitnehmern besetzt sind.
Bei der Ermittlung des Schwellenwerts, der nach dem Mitbestimmungsgesetz nötig ist, um einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat zu bilden, zählen auch Leiharbeitnehmer. Der BGH entschied nunmehr (Beschluss vom 25.6.2019, Az. II ZB 21/18) eine umstrittene Frage: Es kommt auf eine arbeitsplatzbezogene und nicht eine arbeitnehmerbezogene Zählweise an. Das heißt, nicht die konkrete, möglicherweise kürzere Einsatzdauer des einzelnen Leiharbeitnehmers ist entscheidend, sondern die Zahl der Arbeitsplätze im Unternehmen, die länger als sechs Monate mit Leiharbeitnehmern besetzt sind. Entschieden hat der BGH dies in einem Streit über die Bildung von paritätischen Aufsichtsräten sowohl bei einer als reine Verwaltungsgesellschaft betriebenen Teilkonzernspitze sowie bei deren operativen Tochter-GmbH (sog. Statusverfahren bzw. gerichtliches Überleitungsverfahren gemäß § 98 AktG). Das Mitzählen der Leiharbeitnehmer führt dazu, dass beide Unternehmen paritätische Aufsichtsräte bilden müssen.
BGH entscheidet sich für die arbeitsplatzbezogene Zählweise
Nach dem Mitbestimmungsgesetz (§ 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG) hängt es von der Beschäftigtenzahl ab, ob Arbeitnehmer eines Unternehmens paritätisch im Aufsichtsrat vertreten sein müssen. Unternehmen, die in der Regel mehr als 2000 Arbeitnehmer beschäftigen, müssen demnach einen paritätisch besetzten Aufsichtsrat bilden. Das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ergänzt dies seit 2017 in § 14 Abs. 2 Satz 6, wonach Leiharbeitnehmer dann beim Entleiher zu berücksichtigen sind, wenn die Einsatzdauer sechs Monate übersteigt.
§ 14 Absatz 2 Satz 5 und 6 Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG)
Soweit Bestimmungen des Mitbestimmungsgesetzes, des Montan-Mitbestimmungsgesetzes, des Mitbestimmungsergänzungsgesetzes, des Drittelbeteiligungsgesetzes, des Gesetzes über die Mitbestimmung der Arbeitnehmer bei einer grenzüberschreitenden Verschmelzung, des SE- und des SCE-Beteiligungsgesetzes oder der auf Grund der jeweiligen Gesetze erlassenen Wahlordnungen eine bestimmte Anzahl oder einen bestimmten Anteil von Arbeitnehmern voraussetzen, sind Leiharbeitnehmer auch im Entleiherunternehmen zu berücksichtigen. Soweit die Anwendung der in Satz 5 genannten Gesetze eine bestimmte Anzahl oder einen bestimmten Anteil von Arbeitnehmern erfordert, sind Leiharbeitnehmer im Entleiherunternehmen nur zu berücksichtigen, wenn die Einsatzdauer sechs Monate übersteigt.
Umstritten war bisher, ob der einzelne Leiharbeitnehmer länger als sechs Monate beim Unternehmen beschäftigt sein muss (arbeitnehmerbezogene Sichtweise) oder ob es auf die Arbeitsplätze ankommt, die länger als sechs Monate mit – möglicherweise auch wechselnden – Leiharbeitnehmern besetzt sind (arbeitsplatzbezogene Sichtweise).
Der BGH hat sich nun der arbeitsplatzbezogenen Sichtweise angeschlossen. Obwohl die Zivilgerichtsbarkeit bis zum Inkrafttreten des AÜG daran festgehalten hatte, Leiharbeitnehmer nicht mitzuzählen, folgte der BGH der Vorinstanz (OLG Celle) und setzt so den schon länger von der arbeitsgerichtlichen Judikatur eingeschlagenen Weg eines weiten Verständnisses für das Mitzählen von Leiharbeitnehmern bei den Schwellenwerten im Betriebsverfassungsgesetz und in der Unternehmensmitbestimmung fort (vgl. BAG, Urteil vom 24.1.2013, Az 140/12 und BAG, Beschluss vom 4.11.2015, Az 7 ABR 42/13).
Der BGH verlangt bei der Auslegung von § 14 Abs. 2 Satz 6 AUG noch nicht einmal, dass ein konkreter Arbeitsplatz länger als sechs Monate mit wechselnden Leiharbeitnehmern besetzt sein muss. Der BGH vertritt ein noch weiter gehendes Verständnis: Es sei entscheidend, welche Anzahl von Leiharbeitnehmern mehr als die Hälfte im Jahr beständig im Unternehmen vertreten ist. Die Verweildauer des jeweiligen Leiharbeitnehmers kann auch kürzer sein und auch auf unterschiedlichen Arbeitsplätzen erfolgen. Entscheidend ist, ob die eingesetzten Leiharbeitnehmer den ständigen Personalbedarf abdecken. Die Prüfung erfolgt in zwei Stufen:
- Setzt das Unternehmen für eine Dauer, die sechs Monate übersteigt, Leiharbeitnehmer ein – und zwar unabhängig davon, ob die Leiharbeitnehmer auf demselben oder auf verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden?
- Handelt es sich hierbei um regelmäßig anfallende Arbeit im Unternehmen (oder liegt beispielsweise eine Sondersituation im Rahmen von Umstrukturierungen oder zur Bewältigung einer zeitlich begrenzten Aufgabe mit zusätzlichem Arbeitnehmerbedarf vor)?
Was bedeutet das Urteil für die Aufsichtsratszusammensetzung und Aufsichtsratswahlen?
Der BGH hat somit den Meinungsstreit zugunsten einer arbeitsplatzbezogenen Zählweise der Leiharbeitnehmer nunmehr klar entschieden.
Konsequenzen für die Praxis sind:
- Umgehungsmöglichkeiten des AÜG und der Unternehmensmitbestimmung sowie ein Missbrauch von Leiharbeitnehmern sind unterbunden: Wäre für eine Berücksichtigung von Leiharbeitnehmern ein einzelner Arbeitnehmer oder ein konkreter Arbeitsplatz betrachtet worden, hätten Unternehmen jederzeit Leiharbeitnehmer auf verschiedenen Arbeitsplätzen rotieren lassen und deren Einsatzzeit immer unterhalb von sechs Monaten organisieren können, um eine Anwendbarkeit des § 14 Abs. 2 Satz 6 AÜG auszuschließen.
- Neue Aufsichtsräte sind zu bilden: Die Entscheidung dürfte dazu führen, dass mehr mitbestimmte Aufsichtsräte einzurichten sind, sowohl nach dem Drittelbeteiligungsgesetz in Unternehmen mit mehr als 500 Beschäftigten als auch nach dem Mitbestimmungsgesetz mit mehr als 2000 Arbeitnehmern. In manchen Unternehmen wird nun erstmalig ein Aufsichtsrat einzurichten sein.
- Wechsel von Drittelbeteiligung zu paritätischer Aufsichtsratsbesetzung: In anderen Unternehmen könnte die Entscheidung zur Folge haben, dass nicht länger ein drittelbeteiligter Aufsichtsrat, sondern wegen Überschreitens der Schwelle von 2.000 Arbeitnehmern künftig ein paritätischer Aufsichtsrat nach dem MitbestG gebildet werden muss.
- Auswirkung auf die Aufsichtsratsgröße: Ferner sind Fälle denkbar, in denen es bereits einen zur Hälfte mit Arbeitnehmervertretern besetzten paritätischen Aufsichtsrat nach dem MitbestG gibt, nun das Mitzählen der Leiharbeitnehmer zu einer Anpassung der Aufsichtsratsgröße nach den Regeln des § 7 MitbestG führt (bis 10.000 Arbeitnehmer 12, bis 20.000 Arbeitnehmer 16 oder darüber 20 Aufsichtsratsmitglieder).
- Ein Wechsel von Urwahl zur Delegiertenwahl ist ebenfalls möglich, wenn zuvor unter Ausblendung von Leiharbeitnehmern weniger, nun aber mehr als 8.000 Beschäftigte in einem Unternehmen gezählt werden (§ 9 MitbestG).
Bewegt sich das Unternehmen nicht, kann ein Statusverfahren eingeleitet werden
Die Unternehmen sind verpflichtet, diese Veränderungen in der Aufsichtsratsbesetzung jeweils nach § 97 Abs. 1 AktG unverzüglich bekanntzumachen. Sofern dies auch nach Aufforderung nicht erfolgt, können die Arbeitnehmervertretungen, die Arbeitnehmer und (bei paritätischen Aufsichtsräten) die Gewerkschaften gem. § 98 AktG ein Statusverfahren beim Landgericht einleiten. Dies gilt auch für die GmbH.
Keine Auswirkung auf das aktive oder passive Wahlrecht
Die BGH-Entscheidung bezieht sich auf das Mitzählen der Leiharbeitnehmer im Entleiherunternehmen für die Schwellenwerte. Es geht also um die Frage der Anwendbarkeit der Mitbestimmungsgesetze. Auf das Wahlrecht der Leiharbeitnehmer bei Aufsichtsratswahlen im Entleiherunternehmen hat die Entscheidung keine Auswirkung. Leiharbeitnehmer sind im Unternehmen, in dem sie eingesetzt sind weiterhin aktiv wahlberechtigt, wenn sie dem Unternehmen zur Arbeitsleistung überlassen und dort länger als drei Monate eingesetzt werden (§ 10 Abs. 2 Satz 2 MitbestG und § 5 Abs. 2 Satz 2 DrittelbG i.V.m. § 7 Abs. 2 Satz 2 BetrVG). Von der Wählbarkeit in den Aufsichtsrat des Entleiherunternehmens sind Leiharbeitnehmer dagegen ausgeschlossen (§ 14 Abs. 2 S. 1 AÜG).
Leitsatz des BGH
Die Mindesteinsatzdauer in § 14 Abs. 2 Satz 6 AÜG ist arbeitsplatzbezogen zu verstehen. Maßgeblich ist danach, ob das Unternehmen während eines Jahres über die Dauer von mehr als sechs Monaten Arbeitsplätze mit Leiharbeitnehmern besetzt, unabhängig davon, ob es sich dabei um den Einsatz bestimmter oder wechselnder Leiharbeitnehmer handelt und ob die Leiharbeitnehmer auf demselben oder auf verschiedenen Arbeitsplätzen eingesetzt werden. Ist dies der Fall, sind die betreffenden Arbeitsplätze bei der Bestimmung des Schwellenwerts nach § 1 Abs. 1 Nr. 2 MitbestG mitzuzählen, wenn die Beschäftigung von Leiharbeitnehmern über die Dauer von sechs Monaten hinaus regelmäßig erfolgt.