Mitbestimmungspraxis 10
Die Vermessung der Belegschaft
Heute fallen am Arbeitsplatz auf Schritt und Tritt digitale Daten an. Unsere "Mitbestimmungspraxis 10" sensibilisiert für Probleme, die durch die massenhafte Erfassung von Beziehungsdaten und deren Ausweitung für die Belegschaft entstehen.
Es gibt Statistiken, wonach inzwischen weltweit 95% der Menschen ein Handy/Mobiltelefon haben sollen, 42% hätten ein Smartphone, 58% planten sich ein Smartphone zu kaufen. Nahezu jeder Mensch hinterlässt Datenspuren. „Na und, ich habe nichts zu verbergen!“ Diese Meinung kann man vertreten. Aber ist es wirklich egal welche Daten ich erzeuge, wo sie gespeichert werden und wer meine Daten nutzt – gefragt und ungefragt? Zugegeben, es ist eine rhetorische Frage und leider wird man meist erst dann sensibel, wenn unerwünschte Ereignisse zum eigenen Nachteil eintreffen. Erst wenn Datenmissbrauch öffentlich wird wie etwa Edward Snowden gezeigt hat, entstehen Unsicherheit, Skepsis und zugleich Frustration, denn: „Die wissen doch eh schon alles über mich. Was kann der Einzelne denn da schon tun?“ Datensparsamkeit war früher mal ein wichtiger Grundsatz im Datenschutz und eine Antwort auf diese Frage. Das galt zum Beispiel als es in den 1980er Jahren um die Volkszählung ging und sehr viele Menschen sich weigerten dem Staat Informationen über die privaten Lebenssituationen zu geben. Im Zeitalter digitaler und globaler Kommunikation und Konsumption ist Datensparsamkeit nahezu aussichtslos. Könnte dieser Grundsatz vielleicht irgendwann wieder wichtiger werden, wenn mit Big Data immer mehr und kleinteiliger Personendaten analysiert werden?
Die Vermessung der Belegschaft
Mining the Enterprise Social Graph
Heinz-Peter Höller, Peter Wedde
Mitbestimmungspraxis 10, Düsseldorf 2018
Datenschutz und Datensicherheit sind Herkulesaufgaben. Dabei geht es nicht nur um die Nutzung und Verfügbarkeit von Daten, sondern auch um die Interpretation, um Zusammenhänge und Kontexte. Wer heute zum Beispiel ein privates Schnappschussfoto von sich auf einer Party bei Facebook postet, kann Morgen schon in einem Bewerbungsgespräch gefragt werden, ob man Probleme mit Alkohol habe. Das Foto kann harmlos sein, aber der Kontext kann zu sehr unterschiedlich interpretierbaren Geschichten führen und sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen. Welche Geschichte ist wahr? Welche ist nicht wahr? Auf welche Interpretation habe ich Einfluss? Wer analysiert und interpretiert meine Daten, ohne dass ich es kontrollieren kann? Wer nutzt diese Interpretation, ohne dass ich davon etwas mitbekomme, für sein eigenes Geschäftsmodell? „Spooky“!
Am Arbeitsplatz fallen jede Menge Daten an – mit und ohne Bezug zur Person: Betreten, Verlassen des Betriebes, Arbeitszeit, Kantinenkasse, Telefon, Dokumente, Maschinen, etc. Dem Schutz vor Leistungsund Verhaltenskontrolle und dem Schutz personenbeziehbarer Daten widmen Betriebsräte daher viel Energie. Die Autoren dieser MB-Praxis betonen, dass es inzwischen nicht mehr nur um die vielen Einzelangaben zu einem Arbeitnehmer geht, sondern es gehe immer mehr um die Beziehungen, die Beschäftigte unterhalten und in denen sie zusammen kommunizieren und kooperieren. Heinz-Peter Höller beschreibt daher welche Probleme entstehen können, wenn massenhaft Beziehungsdaten von Beschäftigten erfasst werden. Das heisst nicht nur die Kommunikation wird erfasst, sondern auch in welcher Netzwerkbeziehung die Beschäftigten miteinander arbeiten. Wer wird oft kontaktiert? Wer hat viele Likes? Was fängt man an mit den Ergebnissen? Die erste juristische Einordnung macht Peter Wedde.
Ziel der Publikation ist, den Blick der betrieblichen Interessenvertretung, der sich derzeit stark auf Leistungs- und Verhaltenskontrollen und Arbeitnehmerdatenschutz konzentriert, zu weiten und ihn auch auf Probleme zu richten, die durch die massenhafte Erfassung von Beziehungsdaten für die Belegschaft insgesamt entstehen können. Das dürfte letztlich auch für Unternehmen von Interesse sein: Denn wer weiss am Ende des Tages mehr vom Unternehmen, der Software-Hersteller, der alle Daten seiner Kunden speichert oder das Unternehmen selbst?