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Kolumne

Digitale Überwachung von Beschäftigten nimmt zu

Silicon Valley versichert uns, dass Technologie Freiheit ermögliche. Tatsächlich aber finden sich die Arbeitnehmer*innen zunehmend in einem Big-Brother-ähnlichen Panopticon wieder, in dem sie nicht wissen, wann und wie sie beobachtet werden.

Die digitale Überwachung dringt mit ihren Tentakeln unaufhaltsam in die Arbeitswelt und das Leben der Arbeitnehmer*innen ein. Das gilt für Präsenz- und Telearbeit gleichermaßen. Sie breitet sich in den USA immer weiter aus und greift auch in der EU langsam um sich (trotz der Allgemeinen Datenschutz-Grundverordnung und dem Gesetz über digitale Dienste und Märkte). Im Westen kritisieren viele China für den totalitären Übergriff in das Leben der Menschen, wobei modernste digitale Technologie die Infrastruktur für das infame chinesische Sozialpunkte-System liefert. In den USA, Deutschland und anderen Ländern zeichnen sich jedoch ähnlich verstörende Entwicklungen ab. Und sie haben besorgniserregende Auswirkungen für die Arbeitnehmer*innen.

Mitten in einer weltweiten Pandemie schrieb ich vor zwei Jahren einen Artikel für das Mitbestimmungsportal, in dem ich über die ersten Anzeichen dieser Entwicklungen berichtete. Damals begannen Arbeitgeber mithilfe von Technologien, ihre zunehmend von zu Hause arbeitenden Beschäftigten zu beobachten (siehe „Werden Beschäftigte im Home-Office ausspioniert?”). Seitdem entwickelt sich ein boomender Markt für neue und effizientere Überwachungstechnologien, mit deren Hilfe Unternehmen Abermillionen von Arbeitnehmer*innen bei der Arbeit zu Hause überwachen. Die Technologien sind mittlerweile leistungsstärker und Arbeitgeber übergriffiger worden. So haben sich diese Trends zu einer beunruhigenden Zukunft für die Arbeitnehmer*innen und ihre Familien verfestigt.

Bei geringentlohnten Arbeitsplätzen im Dienstleistungssektor ist diese Form des Trackings und der Überwachung mittlerweile gang und gäbe. Der bekannte Fall von Amazon, das seine Beschäftigten überwacht und ihre Produktivität sekundengenau bewertet, ist dokumentiert. Weniger bekannt sind die Entwicklungen in Berufen wie den Kassierer*innen des Lebensmitteleinzelhändlers Kroger, UPS-Fahrer*innen und vielen anderen. Die New York Times berichtet, dass acht von zehn der größten US-amerikanischen Arbeitgeber im Privatsektor die Produktivitätskennziffern einzelner Arbeitnehmer*innen aufzeichnen, viele davon in Echtzeit.

Die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen entwickeln sich zunehmend zur reinen Analytik

Inzwischen erfahren auch höherqualifizierte Beschäftigungen diese Behandlung, die bisher nur gewerbliche Beschäftigte kannten. Die digitale Überwachung der Produktivität durch Tracker, Leistungsbeurteilungen (sogenannte „Scores“), Benachrichtigungen bei „Untätigkeit“ und das konstante Sammeln umfangreicher Überwachungsdaten werden zur Norm. Die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen, die einst auf der physischen Beobachtung der Beschäftigten und persönlichen Interaktionen beruhten, entwickeln sich zunehmend zur reinen Analytik, die Unmengen übergriffiger Daten zu allen Beschäftigten erfordert. Investitionen in neue betriebliche Technologien steigen rasant: Die Kategorie des „Performance Managements“ verzeichnet mit einer Verachtfachung der Kapitalaufwendungen in den letzten fünf Jahren eine der höchsten Zuwachsraten.

Produktivitäts-Paradoxon: Getaktete Seelsorge und „seelsorgerische Stippvisiten“

Die Geistliche Heather Thonvold aus Minnesota wurde Hospizseelsorgerin, um Patient*innen und ihren Familien auf dem Sterbeweg und in ihrer Trauer beizustehen. Plötzlich verlangte jedoch ihr Arbeitgeber, die gemeinnützige Organisation Allina Health, von den Seelsorger*innen, „Produktivitätspunkte“ zu sammeln. Der Besuch eines sterbenden Menschen brachte nur einen Punkt, während die Teilnahme an einer Beerdigung immerhin eindreiviertel Punkte wert war und der Anruf eines trauernden Angehörigen mit einem Viertelpunkt belohnt wurde.

Manche Patient*innen und Familien brauchen mehr Zeit und emotionale Unterstützung als pro Besuch zugestanden wurden, sodass die Seelsorger*innen vor einem moralischen Dilemma standen: Sollen sie die Patient*innen aufsuchen, die ihnen die meisten Punkte bringen, oder eher diejenigen, die den Besuch am dringendsten brauchen?

„Das klingt jetzt herzlos“, berichtet Reverend Thonvold, „aber hin und wieder habe ich „seelsorgerische Stippvisiten“ gemacht, wie ich sie nannte, um auf meine Punkte zu kommen. Schliefen die Patient*innen, so konnte die Seelsorgerin auf diese Weise mit der Pflegekraft nacheinander über verschiedene Patient*innen sprechen, die jeweils als „Besuch“ gerechnet wurden, obwohl die Seelsorgerin gar nicht mit den Sterbenden gesprochen hatte. 

Schlussendlich stellte Thonvold fest, dass die lächerlichen und unangemessenen Kennziffern es ihr unmöglich machten, ihrer Berufung nachzugehen, und sie kündigte. Aber diese Art von „Produktivitätsparadoxon“ – bei dem die messbarste „produktive“ Tätigkeit nicht zwangsläufig die beste Arbeit verspricht – greift in immer mehr Berufen um sich. Architekt*innen, Hochschul-Verwaltungsangestellte, Ärzt*innen, Pflegekräfte, pharmazeutisch-technische Assistent*innen, Versicherungssachbearbeiter*innen, Beschäftige im Online-Handel und Jurist*innen werden durch die zunehmende digitale Überwachung jeder Minute ihres Arbeitstags unter Druck gesetzt. Ein Überwachungsbericht, der der New York Times vorliegt, wies mehr als 20 Einträge in einer einzigen Arbeitsstunde des betreffenden Beschäftigten auf.

Algorithmische Abzocke: Vollzeitarbeit = Teilzeitbezahlung

Andere Unternehmen schaffen ein Panopticon von Big-Brother-Überwachungstechnik, das nicht nur dafür sorgt, dass sich ihre Mitarbeitenden zunehmend unwohl fühlen, sondern auch ihre Bezahlung mindert. Der in Texas ansässige Geschäftssoftwarekonzern ESW Capital nutzt auf den Firmenlaptops installierte Kameras, die regelmäßig Aufnahmen von den Gesichtern und Bildschirmen ihrer Beschäftigten machen und auf diese Weise “Zeitkarten“ erstellt, um zu prüfen, ob sie wirklich arbeiten. Die Software zeichnet im 10-Minuten-Takt Überwachungsdaten auf. Jede Aufnahme, die zeigt, dass sich der/die Mitarbeiter*in vorübergehend vom Bildschirm entfernt, kann bis zu 10 Minuten der Bezahlung kosten. Viele Beschäftigte aus unterschiedlichsten Berufen berichten, dass der Produktivitätsdruck Probleme bei alltäglichen Bedürfnissen verursacht, wie dem Toilettengang oder Kaffeepausen, da ihre Bezahlung gekürzt wird, wenn sie sich vom allsehenden Auge ihres Computers entfernen.

Man muss 55 bis 60 Stunden vor dem Rechner sitzen, damit letztlich 40 Stunden bezahlt werden.

Darüber hinaus wird jede Arbeit, die nicht am Computer stattfindet – z.B. Ausdrucke lesen, die Betreuung und Anleitung anderer Mitarbeiter*innen, Gespräche mit Kolleg*innen, die Ausarbeitung von Ideen auf Papier – in der Software nicht als aktive Arbeit verbucht. Die neuen „Stempeluhren“ haben Mühe, Offline-Tätigkeiten zu erfassen, und sind bei der Bewertung schwer messbarer Aufgaben unzuverlässig. Damit entfällt jede Zeit für das zwanglose Gespräch mit Kolleg*innen in der guten alten Teeküche. Beschäftigte klagen, dass man 55 bis 60 Stunden im Arbeitsmodus vor dem Rechner sitzen muss, damit letztlich die 40 geforderten Stunden gezählt und bezahlt werden. De facto wird der Arbeitstag so immer länger.

Deshalb beschweren sich Arbeitnehmer*innen, nicht ihr volles Entgelt zu erhalten und durch die Algorithmen derart drangsaliert zu werden, dass sie zunehmende Angstzustände verspüren.

Softwareaufseher = Die Tastatur regiert

Die UnitedHealth Group, die mit 350.000 Beschäftigten und Hunderten von Milliarden Dollar Jahresumsatz zu den größten Gesundheitsunternehmen der USA gehört, unterzieht ihre Sozialarbeiter*innen der schlimmsten Form der Überwachung. Bei der Erfassung der effektiven Arbeitszeit hat die Computertastatur das Sagen – selbst in Berufen, wo dies keinen Sinn ergibt.

Sozialarbeiter*innen werden als „untätig“ eingestuft, während sie in Drogenbehandlungszentren Patient*innen beraten, weil sie dabei nicht ihre Tastatur bedienen. Therapeut*innen müssen bei der Behandlung oft sensible Gespräche mit ihren Patient*innen führen. Ihre Laptops erfassen sie jedoch als „untätig“, wenn ihre letzte Eingabe über die Tastatur länger als einen Moment zurückliegt.

„Das war buchstäblich das Ende der Arbeitsmoral“, erklärte eine Teamleiterin von UnitedHealth. „Ich hatte größte Mühe, meinen Teammitgliedern – allesamt studierten Mediziner*innen – zu erklären, warum wir ihre Tastatureingaben zählen”. Ihre summierten Ergebnisse dienen teilweise als Grundlage für die Festlegung ihres Entgelts, da sie nur für die Minuten vergütet werden, in denen sie aktiv „arbeiten“.

Eine bei Unternehmen recht beliebte Nachverfolgungs- und Überwachungssoftware ist WorkSmart. Federico Mazzoli gehört zu den Entwicklern der Software und setzte sie anfänglich selbst in seiner Arbeit ein. Bald kamen ihm jedoch Zweifel an ihrer Genauigkeit und daran, ob sie seine tatsächlichen Arbeitsstunden aktiv erfasst. Nachdem er von seinem eigenen Softwareprodukt digital schikaniert wurde, plagten ihn Angstgefühle. „An manchen Tagen habe ich den Cursor hin- und hergeschoben, nur damit er sich bewegt“, erklärte er. Das Tool sei leistungsstark, aber gefährlich – so seine Schlussfolgerung. Er verließ das Unternehmen ein Jahr später.

Auch an Präsenzarbeitsplätzen haben diese Tools inzwischen Einzug gehalten. Berufe, wie Supermarktkassierer*innen, stehen unter enormen Druck, die Artikel so schnell wie möglich zu scannen, was die Geduld mit älteren, vielleicht etwas langsameren Kund*innen schmälern mag. Die Bediensteten im öffentlichen Sektor werden ebenfalls zunehmend überwacht. Die New Yorker Verkehrsbehörde versuchte Ingenieur*innen und andere Beschäftigte mit dem „Angebot“ zu nötigen, sie könnten einen Tag pro Woche von zu Hause arbeiten, sofern sie einer durchgängigen Produktivitätsüberwachung zustimmen.

Der „Big-Brother-Arbeitgeber“ kommt nach Europa

Diese Trends entwickeln sich unter Federführung der Unternehmen aus dem Silicon Valley in den USA am schnellsten, aber sie zeichnen sich auch in Europa ab. Trotz der Allgemeinen Datenschutz-Grundverordnung, die theoretisch das missbräuchliche digitale Ausspionieren von Beschäftigten verhindern sollte, sind diese Beschränkungen durch die Pandemie gehörig unter Beschuss geraten, und der Angriff geht weiter.

Eine Studie des Forschers Wolfie Christl vom Wiener Institut für kritische digitale Kultur Cracked Labs fand heraus, dass das deutsche EDV-Unternehmen Celonis Softwareprodukte vertreibt, die ein breites Spektrum von Daten zu den Arbeitstätigkeiten von Beschäftigen analysieren und bewerten. Celonis verkauft Spitzelsoftware, die auf den Computern der Mitarbeiten installiert wird und dort Bildschirminhalte, Tastatureingaben, Mausklicks, Scrolls und sogar die Inhalte des Kopieren- & Einfügen-Zwischenspeichers aufzeichnet. Die Software kann versendete E-Mails und aufgerufene Webseiten analysieren. Auf Basis der algorithmischen Auswertungen weist Celonis den Beschäftigten Aufgaben in Echtzeit zu und bewertet die Mitarbeiter*innen anhand der Geschwindigkeit, mit der sie Aufträge ausführen. Die Bearbeitung personenbezogener Daten und Arbeitsmuster wird anschließend zur Leistungsbeurteilung der Beschäftigten genutzt.

Eine weitere tückische Überwachungsmasche betreibt der deutsche Versandhandelsriese Zalando. Das Unternehmen nutzt ein umfangreiches Bewertungssystem seiner Beschäftigten, was durch eine von der Hans-Böckler-Stiftung veröffentlichten Studie publik wurde. Die Forscher fanden heraus, dass die von Zalando eingesetzte Software Zonar anhand einer Vielzahl von personen- und leistungsbezogenen Daten Tausende von Beschäftigten in drei Gruppen einstuft: Low-, Good- und Top-Performer. Das Beurteilungssystem funktioniert wie ein internetbasiertes Bewertungsportal für Verbraucher*innen und wird als objektive Messung der Arbeitsleistung verkauft. Die „Kund*innen“, die die Bewertung vornehmen“, sind jedoch Arbeitnehmer*innen und die von ihnen bewerteten „Produkte“ sind andere Mitarbeiter*innen.

Das ist aber noch nicht alles: Zalando nutzt die Ergebnisse für Entscheidungen über Lohn- und Gehaltserhöhungen und Beförderungen, was den internen Wettbewerb unter den Beschäftigten und den Leistungsdruck noch verschärft. Es untergräbt die Teamarbeit und belastet die Arbeitsatmosphäre und -qualität. Die Autoren der soziologischen Studie kommen zu dem Schluss, dass es bei Zonar im Kern darum geht, die Beschäftigten mit moderner digitaler Technologie ständig bewerten, kontrollieren und sanktionieren zu können. Beschäftige haben gegen die Überwachung protestiert, denn sie sehen das System der totalen Kontrolle als Missbrauch. Anstatt sich einsichtig zu zeigen, hält Zalando daran fest und ist vielmehr rechtlich gegen die Autoren vorgegangen. 

Auch österreichische Firmen sind beim Einsatz von Technologien zur Überwachung ihrer Beschäftigten sehr umtriebig. Eine Studie des Soziologen Hans Christian Voigt untersuchte fünf Fallstudien, um aufzuzeigen, wie digitale Überwachung und Kontrolle genutzt werden. Anhand anonymer Gespräche mit Betriebsräten fand Voigts Studie heraus, dass „mit der digitalen Erfassung von Arbeitszeit und einer granularen Erfassung von Daten über Tätigkeiten […] sich eine Einteilung in produktive und nicht produktive Arbeitszeit weit ausgebreitet zu haben [scheint].“

Die digitale Überwachung von Beschäftigten ist nicht nur ein Merkmal des amerikanischen „Cowboy-Kapitalismus“

Einige Unternehmen haben ihre Überwachungsprodukte auf bestimmte Berufe oder Branchen zugeschnitten. EasyTrack ist ein österreichisches Flottenmanagementsystem für Berufskraftfahrer, das eine Fülle von Daten erfasst, wie z.B. genaue GPS-Standorte, Motorleerlauf, plötzliche Beschleunigungs- und Bremsvorgänge, die gefahrenen Strecken und Arbeitszeiten. Die Vorgesetzten erhalten E-Mail-Benachrichtigungen, wenn ein Mitarbeiter zu schnell fährt, den Motor zu lange laufen lässt, das Fahrzeug ungeplant hält oder einen festgelegten Bereich verlässt. Einer der beworbenen „Vorteile“ ist, dass sich das Gerät leicht im Fahrzeug verbergen lässt, sodass der/die Fahrer*in nicht einmal weiß, dass er/sie konstant überwacht wird.

Diese und andere Fälle zeigen, dass die digitale Überwachung von Arbeitnehmer*innen nicht nur ein Merkmal des amerikanischen „Cowboy-Kapitalismus“ ist, sondern auch in Deutschland, Österreich und anderen Ländern um sich greift, die ein hohes Maß an Datenschutz, arbeitsrechtlichem Schutz und vergleichsweise starke Gewerkschaften haben.

Gegenwehr durch die Beschäftigten und den Gesetzgeber

Während der Überwachungsangriff unermüdlich fortgesetzt wird, regt sich erster Widerstand unter den Arbeitnehmer*innen. Manche haben ihre Arbeitgeber wegen Lohnkürzungen verklagt und sich darauf berufen, dass die digitale Überwachungstechnologie ungenau sei. Auch einige US-Bundesstaaten wehren sich. Ein New Yorker Gesetz verlangt seit diesem Frühjahr von Arbeitgebern, die Art der von ihnen erfassten Informationen offenzulegen. Bemühungen, auch in Kalifornien ähnliche Bestimmungen einzuführen, verliefen angesichts des Widerstands von Unternehmen vorerst im Sand.

Im Rahmen der deutschen Mitbestimmung können Betriebsräte in Betriebsvereinbarungen mit dem Arbeitgeber gemeinsam festlegen, wie Technologien eingesetzt werden. Solche Betriebsvereinbarungen, die von der Hans-Böckler-Stiftung gesammelt und analysiert werden, können dazu beitragen, „gute Praxis“ zu entwickeln, Vertrauen zu schaffen und die Akzeptanz neuer Technologien zu fördern, wenn sie für eine allgemeine Nutzung als sicher eingestuft wurden.

Die Arbeitnehmer*innen leisten selbst auf ihre eigene Weise clevere Gegenwehr, zum Beispiel durch die Suche nach Möglichkeiten, die Software zu überlisten. Auf TikTok veröffentlichen Arbeitnehmer*innen Videos, in denen sie Tipps geben, wie man die Systeme täuscht, zum Beispiel mit einem „Mausschieber“ – einem Gerät, das den Eindruck ununterbrochener Mausbewegungen vermittelt. Ein beliebtes Modell heißt – ausgerechnet – „Liberty“ (Freiheit). Andere Arbeitnehmer*innen nutzen im Homeoffice einen zweiten Monitor und haben nur die Programme und Apps, die mit der Arbeit zusammenhängen, auf ihrem Hauptbildschirm. Wieder andere haben gelernt, die Abstände zwischen der Aufnahme der Screenshots zu takten, um das Tracking zu umgehen.

Die Überwachung ist nicht nur ethisch fragwürdig, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht kontraproduktiv

Angeblich sollen diese neuen Formen der Überwachungssoftware dafür sorgen, dass die Arbeitnehmer*innen während ihrer Arbeitszeit keinen privaten Aktivitäten nachgehen. Neuen Untersuchungen zufolge, die in der Harvard Business Review zitiert werden, geht dieser Ansatz gründlich nach hinten los. Studien haben herausgefunden, dass die Überwachung loyaler, arbeitsbeflissener Beschäftigter dazu führt, dass diese unbewusst das Misstrauen ihnen gegenüber spüren und deshalb weniger Verantwortung für das eigene Verhalten übernehmen. Bei überwachten Arbeitnehmer*innen treten deutlich häufiger Verhaltensweisen wie Betrug oder Diebstahl von Unternehmenseigentum auf oder sie schieben absichtlich „Dienst nach Vorschrift“. Es ist wahrscheinlicher, dass sie statt mit vollem Einsatz und besten Absichten eher weniger moralischen Anstand und Verantwortungsgefühl zeigen.

Diese Gegenreaktion verdeutlicht, dass die Überwachung nicht nur moralisch und ethisch fragwürdig ist, weil sie die Arbeitnehmer-Arbeitgeber-Beziehung belastet und den misstrauisch beäugten Arbeitnehmer*innen das Gefühl geringerer Wertschätzung vermittelt. Sie ist auch aus wirtschaftlicher Sicht kontraproduktiv, da manche überwachte Arbeitnehmer*innen negative, unkooperative Verhaltensweisen entwickeln und nicht mehr ihr Bestes geben. Es führt zu Mitarbeiterfluktuation, da Beschäftigte sich bessere Arbeitsplätze suchen, was die Teamarbeit und Arbeitsabläufe stört.

Viele der in den USA, Deutschland oder der EU am Arbeitsplatz geltenden Bestimmungen wurden lange vor dem neuen Zeitalter der mobilen Arbeit und digitalen Überwachung verabschiedet. Die bestehenden Gesetze in Europa und den USA weisen zahlreiche Schlupflöcher auf, die es Arbeitgebern unter bestimmten Umständen ermöglichen, mit einer möglicherweise illegalen Überwachung durchzukommen.

Viele Unternehmen machen natürlich (noch) nicht von dieser Spitzeltechnologie Gebrauch. Aber der Druck wettbewerbsorientierter Märkte ist oft ein Anreiz, die Geschäftspraktiken anderer nachzuahmen. In dem Maße, wie sich die Menschen an die ständige Nachverfolgung in vielen Lebensbereichen gewöhnen, schwindet womöglich auch der Widerstand. Die Technologie entwickelt sich weiter und wird auf bedrohliche Weise immer leistungsstärker – viel schneller als die Regierungen sie regulieren können.

George Orwell dachte, das Gespenst des Großen Bruders ginge von der heimtückischen und übergriffigen staatlichen Überwachung aus, ähnlich wie in China und Russland. Stattdessen kommt sie zumindest in den westlichen Ländern aus der Unternehmenswelt. Staatliche Regeln sowie Medienberichte und ein zunehmendes öffentliches Bewusstsein für die Tücken der digitalen Technologien bleiben wesentliche Instrumente, um diese gefährlichen Praktiken einzudämmen. Aber bisher ist es den Konzernlobbyisten gelungen, den notwendigen politischen Willen zur Umsetzung eines umfassenden regulatorischen Instrumentariums auszuhebeln.