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Kolumne

Wird US-Präsident Biden die Arbeitnehmenden und Gewerkschaften stärken?

Joe Biden war der gewerkschaftsfreundlichste Präsidentschaftskandidat seit Langem. Kann er halten, was er verspricht? Der Kampf gegen die Pandemie und das antiquierte politische System der USA könnten seine Chancen zunichtemachen.

Im Gespräch mit den Vorstandsvorsitzenden einiger der größten US-amerikanischen Konzerne sagte Joe Biden: „Sie müssen wissen, dass ich ein Gewerkschaftsmann bin.“ Unter seiner Regierung „werden die Gewerkschaften stärkeren Einfluss haben“. Biden, der langjährige Beziehungen zu den Gewerkschaften pflegt, hatte ihnen zuvor versprochen, der „arbeitnehmerfreundlichste Präsident zu sein, den Sie jemals hatten."

Aber kann Präsident Biden halten, was er verspricht? Der von ihm für das Amt des Arbeitsministers Nominierte, der starken Rückhalt beim Gewerkschaftsdachverband AFL-CIO und bei bedeutenden Gewerkschaften genießt, scheint darauf hinzudeuten, dass es Biden ernst ist. Andererseits dürften die Prioritäten, die der Kampf gegen die COVID-19-Pandemie vorgibt, in Verbindung mit dem antiquierten politischen System der USA und dem Durchgriff großer Konzerne und Partikularinteressen auf die demokratische Partei die Umsetzung eines arbeitnehmerfreundlichen Programms schwierig machen. 

Man schaue nur auf den letzten Präsidenten der Demokraten. Barack Obama war gut darin, große arbeitnehmerfreundliche Reden zu halten, aber die Ergebnisse waren durchwachsen. Seine Ernennungen für wichtige Verwaltungsgremien wie das National Labor Relations Board (Nationales Gremium für Arbeitsbeziehungen) waren hochkarätig und die Bundesbehörden wurden von Arbeitsrechtsverfechtern durchweg hochgelobt. Aber gesetzgeberisch gab es nur wenig große Erfolge. Obama versuchte sich nie an ambitionierten Initiativen, wie der Einführung der Mitbestimmung oder Kurzarbeit in der großen Wirtschaftskrise von 2008-10, oder auch nur an einer umfassenden dualen Ausbildung nach deutschem Vorbild, die in beiden politischen Lagern Unterstützer hätte finden können.

Eine der größten Enttäuschungen in der Amtszeit von Obama war das Versäumnis, ein Gesetz zu beschließen, das das Kräfteverhältnis wiederherstellt, indem es die gewerkschaftliche Organisation erleichtert. Der „Employee Free Choice Act“ (EFCA, Gesetz über die Entscheidungsfreiheit der Arbeitnehmenden) hätte ein Abstimmungskartensystem eingeführt (bei dem sich die Mehrheit der Beschäftigten durch Unterzeichnung einer Karte für die Gewerkschaft ausspricht, statt Wahlen abhalten zu müssen). Ein solches System erschwert es Arbeitgebern, gegen Gewerkschaften mobil zu machen. Das EFCA hatte für die organisierte Arbeitnehmerbewegung oberste Priorität, die die Präsidentschaftskandidatur Obamas mit Wahlkampfspenden in Höhe von Hunderten Millionen Dollar und Tausenden Ehrenamtlichen stark unterstützt hatte. Dennoch setzte sich Präsident Obama politisch kaum für die Verabschiedung dieses Gesetzes ein. Und als das Thema der zunehmenden Ungleichheit durch die Bewegung „Occupy Wall Street“ hohe Aufmerksamkeit bekam, versäumte es Präsident Obama, diese Energie zu nutzen und dem Land einen Kurswechsel zu verordnen.

Zugegebenermaßen hatte die Administration Obama die schlimmste Rezession seit der großen Weltwirtschaftskrise geerbt. Und nach den ersten zwei Jahren seiner Amtszeit versuchte ein mehrheitlich republikanischer Senat unermüdlich, seine politischen Ziele zu behindern. Aber auch Joe Biden erbt infolge der COVID-19-Pandemie eine desolate Wirtschaftslage. Einige Gewerkschafter fanden, dass Präsident Obama die Tradition früherer demokratischer Präsidenten wie Bill Clinton und Jimmy Carter fortsetzte, die sich während ihres Wahlkampfs den Gewerkschaften gegenüber wohlgesonnen gaben, nur um die Prioritäten der Arbeitnehmenden am Wahlabend hintanzustellen. 

Obama 2.0 wird nicht reichen.

Wird Joe Biden trotz der Unterstützung, die er von den Gewerkschaften bekam, genauso verfahren? Obama war sicherlich um Längen besser als Präsident Donald Trump (siehe meine frühere Kolumne für das Mitbestimmungsportal „Trump attackiert US-Arbeitnehmer und Gewerkschaften“). Aber Joe Biden – früherer Vizepräsident von Obama – wird um Längen besser sein müssen als Obama. Obama 2.0 wird nicht reichen. 

Denn die wirtschaftlichen Bedingungen, die zur Wahl des Populisten Donald Trump führten, haben sich nicht gebessert. Im Gegenteil: In den 1990er Jahren lag die Beschäftigungsquote von Männern, die nur einen High-School-Abschluss haben, bei etwa 73%. Diese Zahl fiel nach der Rezession von 2001 auf unter 70% und erholte sich nie. Nach der großen Wirtschaftskrise fiel sie auf unter 65% und blieb während des langwierigen, langsamen Wirtschaftsaufschwungs auf diesem Wert. Mit Ausbruch von COVID-19 fiel sie unter 55% und liegt weiter unter 60%. Dieser Rückgang bedeutet, dass etwa vier Millionen Männer weniger Arbeit haben. Viele von ihnen wurden zu Unterstützern von Donald Trump. Ein Teil dieser Basis schloss sich am 6. Januar 2021 einem gefährlichen, von Trump aufgewiegelten rechten Mob an, der das US Capitol erstürmte.

Auf Präsident Biden wartet also viel Arbeit. 

Ein neuer arbeitnehmernaher Arbeitsminister

Aus Sicht arbeitnehmernaher Kreise ist die Wahl Joe Bidens für das Amt des Arbeitsministers eine gute Nachricht. Die Gewerkschaften hatten versucht, großen Druck auf diese Auswahl auszuüben, da sie sie als Gradmesser ihres Einflusses auf Biden sahen. Der letzte Präsident der Demokraten, der einen Arbeitsminister mit direkten Verbindungen zur Gewerkschaftsbewegung ernannte, war Präsident John F. Kennedy 1961. 

Daher waren Gewerkschaftsvertreter hocherfreut, als Biden den amtierenden Bürgermeister von Boston nominierte: Marty Walsh beschreibt sich selbst als „lebenslangen Vorkämpfer der arbeitenden Bevölkerung“, der sich seinen Gewerkschaftsausweis 1988 mit dem Beitritt zu Laborers Local 223 verdiente und Vorsitzender des Bostoner Bezirks der Baugewerkschaft Building and Construction Trades Council war, bevor er Bürgermeister wurde. Walsh erwarb sich hohes Ansehen führender Gewerkschaftsvertreter wie Richard Trumka, dem Vorsitzenden des AFL-CIO, dem größten Gewerkschaftsdachverband der USA, der 55 Gewerkschaften mit über 12,5 Millionen Mitgliedern zählt. 

Biden lobte konkret Walshs Unterstützung für die Anhebung des bundesweiten Mindestlohns und der bezahlten Elternzeit sowie einer Überstundenregelung, die während der Amtszeit von Obama-Biden eingebracht worden war, aber von der Trump-Administration verwässert wurde. „Marty versteht wie ich, dass die Mittelklasse dieses Land aufgebaut hat und Gewerkschaften die Mittelklasse aufgebaut haben”, erklärte Biden bei seiner Nominierung. Bei Annahme seiner Nominierung hielt Walsh eine flammende Rede über seine Abstammung als Sohn einer katholischen, irischen Arbeiterfamilie und sagte: „Der arbeitende Teil der Bevölkerung leidet seit Langem unter der Aushöhlung seiner Rechte und den tiefen Ungleichheiten zwischen den Rassen, Geschlechtern und Klassen. Jetzt haben wir die Chance, die Macht wieder in die Hände der arbeitenden Menschen überall in diesem Land zu legen.“

Während seines Wahlkampfs hatte Biden eines der ehrgeizigsten Programme in puncto Arbeitnehmerprobleme

Ein weiterer positiver Aspekt ist, dass Biden während seines Wahlkampfs eines der ehrgeizigsten Programme nennenswerter Präsidentschaftsanwärter seit Langem in puncto Arbeitnehmerprobleme, Macht der Konzerne und Gewerkschaften hatte. Viele seiner Wahlkampfthemen folgten in vielerlei Hinsicht der Kampagne des linken, progressiveren demokratischen Senators Bernie Sanders (den Biden fast als seinen Arbeitsminister ernannt hätte. Aber Berichten zufolge kamen die beiden überein, dass es angesichts der Mehrheit der Demokraten im US-Senat von nur einem Sitz zu riskant gewesen wäre, da Sanders freiwerdender Sitz in einer Nachwahl an die Republikaner hätte fallen können). Es folgt ein Überblick über einige von Bidens arbeitnehmerrelevanten Vorschlägen:

  • Stärkung des Rechts auf gewerkschaftliche Organisation. In seiner Kampagne kündigte Biden an, einige jahrzehntealte Arbeitsgesetze erweitern zu wollen, um die Rechte der Arbeitnehmenden auf Tarifverhandlungen auszudehnen und Strafen für Unternehmen einzuführen, die Beschäftigte Repressalien unterziehen, die Gewerkschaften gründen. Biden sagt außerdem, er unterstütze das Gesetz EFCA über die Abstimmung per Karte (für das er sich bereits als Senator im ursprünglichen Gesetzgebungsverfahren federführend einsetzte. Es bleibt abzuwarten, ob er und sein Arbeitsminister Walsh mehr politischen Einfluss dafür spielen lassen werden, als es Obama tat).
  • Falscheinstufung von Beschäftigten. Bidens Wahlkampfprogramm sah die „aggressive Verfolgung von Arbeitgebern vor, die gegen Arbeitsrecht verstoßen und Entgeltdiebstahl oder Steuerbetrug begehen, indem sie vorsätzlich abhängig Beschäftigte als Selbstständige deklarieren“. Biden forderte außerdem eine bessere Mittelausstattung der Ermittlungsbehörden, um „weitreichende Anstrengungen zur Bekämpfung der Falschdeklaration zu ermöglichen“. 
  • Unterstützung für Beschäftigte der Gig-Ökonomie. Biden unterstützte das kalifornische Gesetz „AB 5“, das im Januar 2020 in Kraft trat und Uber-Fahrer, Fahrer von Lieferdiensten und andere Arten von Beschäftigen in der Gig-Ökonomie und Selbständige neu als abhängig Beschäftigte einstuft (siehe „Ein Schlag gegen die 'Scheinselbständigkeit' und Gig Economy“ im Mitbestimmungsportal). Dadurch erhielten sie Anspruch auf Mindestlöhne, Sozialleistungen und Arbeitnehmerschutz. Biden sprach sich dafür aus, das kalifornische Gesetz bundesweit umzusetzen. Uber und Lyft ignorierten es jedoch und gaben dann erstaunliche 200 Millionen US-Dollar für eine Initiative zur Durchführung einer Volksabstimmung im November 2020 aus, um den Teil des Gesetzes außer Kraft zu setzen, der ihre Fahrer betrifft. Es bleibt abzuwarten, ob diese Niederlage Bidens Enthusiasmus für eine bundesweite Regulierung der Gig-Beschäftigten gedämpft hat.
  • Eindämmung „externer“ Arbeitgeber. In seinem Wahlkampf kündigte Biden an, ein Gesetz verabschieden zu wollen, das wieder eine breite Definition des „gemeinsamen Arbeitgebers“ festlegt, die alle Unternehmen umfassen soll, die indirekt Kontrolle über die Beschäftigungsbedingungen eines Arbeitnehmenden ausüben. Der Vorschlag hat weitreichende Folgen für Unternehmen, die Leiharbeitnehmer einer externen Firma oder Agentur einsetzen, und auch für Franchisegeber wie McDonalds, die die Arbeitnehmenden ihrer Franchisenehmer zwar nicht unmittelbar beschäftigen, aber dennoch indirekt Kontrolle über deren Arbeitsbedingungen ausüben.
  • Sicherheit am Arbeitsplatz. Unter Präsident Donald Trump sank die Anzahl von Inspektoren, die im Auftrag der Arbeitsschutzbehörde die Bestimmungen für Sicherheit und Gesundheit am Arbeitsplatz kontrollieren, auf den niedrigsten Stand seit Jahrzehnten. Biden hat versprochen, die Anzahl der Arbeitsschutzinspektoren zu verdoppeln und die Regulierungsbehörden zu ermächtigen, Vorladungen auszusprechen oder bei Verstößen gegen die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften im Zusammenhang mit dem Coronavirus Bußgelder zu verhängen.
  • Bundesweiter Mindestlohn. Der bundesweite Mindestlohn liegt seit 2009 bei 7,25 US-Dollar pro Stunde – die längste Phase ohne Erhöhung aller Zeiten. Biden hat zugesagt, den bundesweiten Mindestlohn schrittweise auf 15 US-Dollar pro Stunde zu erhöhen. Er befürwortet auch die Indexierung des Mindestlohns im Verhältnis zum mittleren Stundenlohn, um zu gewährleisten, dass Geringverdiener mit mittleren Einkommensgruppen Schritt halten. Weiterhin beabsichtige er „sicherzustellen, dass alle starke Lohnnebenleistungen erhalten“. 
  • Abschaffung von „Right-to-work“-Gesetzen. 28 Bundesstaaten haben sog. „Right-to-work“-Gesetze beschlossen. Sie ermöglichen Beschäftigten die Entscheidung, keine Gewerkschaftsbeiträge zu entrichten, auch wenn sie in den Genuss eines Tarifvertrags kommen. Diese Gesetze haben die Anzahl zahlender Gewerkschaftsmitglieder, ihre Mitgliedsbeiträge und Verhandlungsstärke drastisch gemindert, weshalb Biden vorgeschlagen hat, sie abzuschaffen. 

Inwieweit wird Joe Biden bereit sein, gegen die Interessen der Großkonzerne vorzugehen?

Auch wenn Bidens Pläne einige Maßnahmen beinhalten, die Gewerkschaften und Denkfabriken wie das Center for American Progress seit Jahren vorbringen, hat er keine ambitionierteren Initiativen unterstützt, wie die Gesetzesinitiative der Senatorin Elizabeth Warren für Mitbestimmung oder die Forderungen arbeitnehmernaher Kräfte nach einem übertragbaren Sicherheitsnetz. Progressive Demokrat/innen wie die Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez schlagen angesichts der engen Verbindungen Bidens zu großen Geldgebern Alarm. Während sich das Kampagnenteam von Biden mit den vielen kleinen Spenden brüstete, die man mobilisiert habe, gingen in den letzten sechs Monaten des Wahlkampfs 200 Millionen US-Dollar einzelner Spender ein, die jeweils mindestens 100.000 US-Dollar gaben. Milliardäre und Multimillionäre von der Wall Street, aus Hollywood und dem Silicon Valley stellten große Schecks aus. Bei einer Spendenveranstaltung, die ein milliardenschwerer Finanzier ausrichtete, kostete die Eintrittskarte 500.000 US-Dollar. Inwieweit wird Joe Biden bereit sein, im Namen der Arbeitnehmenden und Gewerkschaften gegen die Interessen der Großkonzerne vorzugehen? 

Andere im progressiven linken Lager sehen einige Nominierungen als problematisch. Die von Biden für das Amt der Finanzministerin auserkorene Janet Yellen, frühere Vorsitzende der US-Notenbank, sowie seine Kandidatin für die Haushaltsbehörde (Office of Management and Budget), Neera Tanden von der Mitte-links-orientierten Denkfabrik Center for American Progress, haben beide ihre Bereitschaft bekundet, Kürzungen im nationalen Rentensystem, der Sozialversicherung und anderen sozialen Sicherungssystemen vorzunehmen, um so im Rahmen eines Interessensausgleichs langfristig deren Defizit abzubauen. Als Senator unterstützte – und widersprach – Joe Biden in der Vergangenheit Kürzungen in der Sozialversicherung. Für viele, die Bidens Kampagne unterstützt haben, einschließlich Gewerkschaftsvertreter/innen, sind dies Warnzeichen eines künftigen Verrats. 

Die Biden-Administration steht außerdem vor einem US-amerikanischen Arbeitsmarkt, der sich noch von den Schockwellen der Pandemie erholt, die ein Jahrzehnt des Beschäftigungswachstums beendete. Er hat versprochen, mithilfe weiterer Konjunkturprogramme Millionen von Arbeitsplätzen zu schaffen. Und er hat angekündigt, als Teil seines Klimaplans Arbeitsplätze im Bereich der sauberen Energien zu schaffen sowie „eine starke industrielle Basis und mittelstandsgeführte Lieferketten aufzubauen, um Millionen gutbezahlter, gewerkschaftlich organisierter Arbeitsplätze in der Fertigung und Technologie zu erhalten und zu schaffen." Des weiteren hat er zugesagt, während der ersten 100 Tage seiner Amtszeit ein ehrgeiziges Programm mit 100 Millionen COVID-19-Impfungen umzusetzen, die Schulen wieder zu öffnen und die Wirtschaft hochzufahren. Es ist eine sehr ambitionierte Agenda, sodass Arbeitnehmerfragen im Eifer des Gefechts auf der Strecke bleiben könnten, wie bei Obama. 

Die drohende Hürde des Senats

Eine weitere Hürde wird der US-Senat sein. Die zweite Kammer des US-Kongresses – die sich gern als „das großartigste Beratungsorgan der Welt" sieht – ist tatsächlich in etwa so repräsentativ wie das britische Oberhaus. Die überwiegende Mehrheit der Senatoren sind ältere, weiße Männer. Von den 100 Senator/innen sind nur 25 Frauen und zehn gehören nichtweißen Minderheiten an (vier Senatoren lateinamerikanischen, drei asiatisch-amerikanischen und drei afroamerikanischen Ursprungs). Bei zwei Stichwahlen im konservativen US-Bundesstaat Georgia am 5. Januar 2021 wurden jedoch die Demokraten und Biden enorm gestärkt, als die Demokraten überraschenderweise beide Rennen für sich entschieden. Entgegen der Erwartungen haben die Demokraten jetzt eine knappe Mehrheit im Senat mit einer 50-50-Sitzverteilung, wobei aber die Stimme von Bidens Vizepräsidentin Kamala Harris von Gesetzeswegen bei Stimmengleichheit ausschlaggebend ist.

Dennoch bleibt der Senat wahrscheinlich auch künftig die Kammer, „wo Gesetzgebung zum Sterben hingeht”, wie jemand einmal sagte, was an seinen geheimnisvollen, mehrheitsfeindlichen Regeln liegt, wie zum Beispiel der Verschleppungstaktik („filibuster“). Die langjährige Praxis im Senat zeigt, dass bei den meisten Gesetzesvorhaben 41 von 100 Senatoren reichen, um gegen die Aussprache über ein Gesetzesvorhaben zu stimmen und so die endgültige Abstimmung darüber zu verhindern. Werden die 50 republikanischen Senator/innen dieses Verfahren nutzen, um Gesetzgebung zu vereiteln? Außerdem gelten mehrere demokratische Senatoren, zum Beispiel aus Bundesstaaten wie West Virginia und Montana, selbst als recht konservativ. Als langjähriger Senator ist Joe Biden mit den verschlungenen Pfaden des komplizierten Prozederes im Senat bestens vertraut. Er wird sein gesamtes politisches Geschick brauchen, um dieser antiquierten und unbeholfenen Kammer der Legislative etwas Gutes abzuringen. 

Trotz der Siege bei den Stichwahlen zum Senat in Georgia, wird vermutlich jedes ambitionierte Gesetzesvorhaben Mühe haben, durch den Kongress zu kommen. Somit bleibt Präsident Biden die düstere Alternative, präsidiale Verfügungen zu erlassen, wie dies schon Präsident Trump tat, wenn er am Kongress scheiterte. Angesichts der trostlosen Mehrheitsverhältnisse im Senat haben progressive Organisationen und Medienkanäle bereits lange Wunschlisten präsidialer Verfügungen erstellt. Ein solcher Versuch nennt 277 Maßnahmen, die per Verfügungsgewalt der Exekutive beschlossen werden könnten: 48 Verfügungen würden politische Entscheidungen aus der Trump-Zeit aufheben, 78 beträfen die Zuwanderung, 54 das Arbeitsrecht, die Wirtschaft und das Gesundheitswesen und weitere 54 den Klimawandel. 

Die Gegenwehr, die ein solcher Missbrauch der Exekutivgewalt wohl auslösen würde, einschließlich der gefährlichen Aushöhlung des demokratischen Prozesses an sich, scheint den Befürwortern nicht in den Sinn gekommen zu sein. 

Die Administration Biden steht vor enormen Herausforderungen

Viele in Deutschland und der EU haben Joe Bidens Wahl begrüßt und hoffen, dass in Washington DC wieder einige Züge ihres früheren Nachkriegsverbündeten zum Vorschein kommen werden. Sicherlich werden Biden und sein Team eine willkommene Erholung vom „Trumpschen Wahnsinn“ und der durch ihn dargestellten Bedrohung bieten. Aber angesichts der gravierenden institutionellen Sachzwänge, die das antiquierte politische System der USA im US-Senat mit sich bringt, sowie des Einflusses reicher Geldgeber – verschärft durch die Notwendigkeit, eine lähmende Pandemie und die tiefen politischen und kulturellen Gräben zu überwinden, die das Land weiterhin plagen – werden hohe Erwartungen womöglich enttäuscht werden. 

Ganz gleich, ob es um den Umgang mit Beschäftigten und Gewerkschaften, den Klimaschutz oder die Außenpolitik geht – die Administration Biden steht vor enormen Herausforderungen, die die Umsetzung progressiver Ziele einschränken könnten.