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Kolumne

Können die EU und USA ihre Arbeitnehmerschaft im 21. Jahrhundert schützen?

Die transatlantischen Bemühungen zur Regulierung digitaler Plattformunternehmen und ihrer prekären Beschäftigungsverhältnisse sind in den letzten Monaten stockend vorangekommen – aber es muss mehr getan werden.

Ilustration Kolumne Hill
Für das Mitbestimmungsportal schreibt der US-Journalist und Buchautor Steven Hill eine Kolumne zur digitalen Wirtschaft.

Vor mittlerweile zehn Jahren begann der Aufstieg der „Gig Economy“ in einem Klima großen Technologieoptimismus. Anfangs sangen Medien wie die New York Times und Fortune neben politischen Größen wie Präsident Barack Obama in den USA und EU-Kommissarin Neelie Kroes in der EU Loblieder auf die Plattformökonomie als Vorboten der Zukunft. Die Gig-Ökonomie versprach Arbeitnehmer*innen die Flexibilität, ihre Arbeitszeiten frei zu gestalten. „Die Arbeit kommt zu Ihnen – auf Ihrem Smartphone“ – so lautete der Slogan der „Sharing Economy“ für Berufe von Taxi- und Essenslieferfahrer*innen über Computerprogrammierer*innen bis zu Hotelfachkräften, Hausmeister*innen, Reinigungskräften und Gelegenheitsjobber*innen. 

Unternehmen wie Uber, Lyft, Airbnb, Task Rabbit, Upwork, Deliveroo, Bolt, Lieferando und Dutzende anderer „digitaler Plattformen“ galten als neueste und angesagteste Speerspitzen des Kapitalismus, als Innovationslieblinge. Arbeitnehmer*innen, die über diese Plattformen Arbeit fanden, wurden in der Regel als Selbständige eingestuft, obwohl viele von ihnen ausschließlich für ein einziges Plattformunternehmen arbeiteten und eindeutig die Kriterien einer abhängigen Beschäftigung erfüllten.

Aber wen kümmert‘s? Wenigstens konnten die Verbraucher*innen per App ein Taxi oder Essen bestellen oder sich eine Unterkunft buchen. Was sollte dabei schon schiefgehen? Ich habe zwei Bücher über die weiteren Folgen dieser Entwicklungen geschrieben: Raw Deal: How the Uber Economy and Runaway Capitalism Are Screwing American Workers und Die Startup Illusion: Wie die Internet-Ökonomie unseren Sozialstaat ruiniert

Diese Beschäftigten können einfach 'per Algorithmus gefeuert werden'.

Drei Jahre später um 2017 herum bröckelte der erste Putz und gab die Schattenseiten der Gig-Ökonomie frei. Vorwürfe des „Überwachungskapitalismus“ wurden laut und es zeigte sich, dass die Plattformarbeit nurmehr die jüngste Täuschung von Arbeitnehmer*innen durch die Konzerne mithilfe modernster digitaler Technologien ist, die eigens konzipiert wurden, um deren Bezahlung, Schutz und Sicherheitsnetz weiter zu reduzieren. Die Unternehmensleitungen müssen für Millionen prekärer Arbeitnehmer*innen nicht mehr mit Arbeitnehmervertreter*innen verhandeln, sondern können sie einfach „per Algorithmus feuern“. Die digitalen Plattformen zeigten keinerlei Achtung für die soziale Bindung zwischen Arbeitgebern und ihren Beschäftigten oder Skrupel bezüglich ihrer schädlichen Folgen für die Gesellschaft. Diese Unternehmen haben sich selbst und ihre Geschäftspraktiken auf eine Weise konzipiert, die letztendlich die Gesellschaft untergräbt, die sie angeblich in die Zukunft führen.

Es dauerte weitere drei Jahre, bis die Verfechter*innen von Arbeitnehmerrechten und Gewerkschaften mithilfe ihrer Verbündeten in der Legislative begannen, mit neuen Gesetzen die Missstände einzuhegen. In den USA ließen sich die Bundesregierungen unter Obama wie auch Trump von dem Irrglauben täuschen, diese Unternehmen und ihre toxischen Geschäftsmodelle seien „innovativ“. So übernahmen stattdessen Bundesstaaten wie Kalifornien die Führung.

Auch in der EU hielten sich die Institutionen zurück und überließen es den Mitgliedstaaten, Gesetze einzuführen. In den meisten EU-Mitgliedstaaten war der Arbeitnehmerschutz bereits besser als in den USA, sodass unzählige Vertreter*innen der EU und ihrer Mitgliedstaaten, mit denen ich zwischen 2017 und 2019 sprach, keinen großen Handlungsbedarf sahen.

Aber nach und nach drangen diese Unternehmen à la Silicon Valley in die Märkte der EU-Mitgliedstaaten ein – auch diejenigen, in denen ihre Dienstleistungen vermeintlich nicht angeboten wurden. Ich kann mich erinnern, dass Uber 2018 in Berlin offiziell noch nicht tätig war, mir ein Freund aber seine Uber-App zeigte und gut ein Dutzend Uber-Taxis in seinem Kiez auf Kundenfang waren (ich berichtete im Oktober 2018 für das Mitbestimmungsportal darüber). Diese Unternehmen sind wie Rost – sie zersetzen unablässig ihren „Träger“ und suchen nach Schlupflöchern in der EU- und einzelstaatlichen Gesetzgebung.

Endlich gesetzliche Gegenwehr

Zehn Jahre nach dem Wandel der Gig-Ökonomie von unbekannten Startups zu weltweit beherrschenden Plattformen beschloss die EU im März 2024 ihren ersten großen Rechtsakt zu diesem Thema: die Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit. Die Plattformrichtlinie soll die Falscheinstufung des Beschäftigungsstatus von abhängig Beschäftigten als „selbständige Auftragnehmer*innen“ oder „Soloselbständige“ verhindern und die missbräuchliche Nutzung von KI/Algorithmen am Arbeitsplatz eindämmen. Und im Januar 2024 verabschiedete die Biden-Administration eine neue Verwaltungsbestimmung, die die Falscheinstufung von Beschäftigten und die Scheinselbständigkeit eindämmen soll. Kalifornien hatte bereits 2019 ein bundesstaatliches Gesetz verabschiedet, um die Falscheinstufung des Beschäftigungsstatus zu verhindern (ich berichtete im Dezember 2019 für das Mitbestimmungsportal darüber).

Nach zehn Jahren ungezügelten Kapitalismus versucht der Gesetzgeber, die Plattformen jetzt an die Kandare zu nehmen.

Die Existenz von drei verschiedenen Gesetzen zur Falscheinstufung des Beschäftigungsstatus ermöglicht hilfreiche Vergleiche, um zu verstehen, welches dieser Gesetze wohl am wirksamsten sein wird. Über den reinen Wortlaut hinaus ist ein weiteres entscheidendes Element, ob das Gesetz seine eigene Durchsetzung ermöglicht oder behindert.

Ein Vergleich offenbart, dass zwar jeder der Rechtsakte seine jeweiligen Stärken und Schwächen hat, der EU-Plattformrichtlinie aber ein wesentliches Element fehlt, was sie deutlich schwächt. In den letzten Zügen des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Richtlinie kurz vor ihrer Verabschiedung verwässert, um Partikularinteressen – auch die einiger Mitgliedstaaten – Rechnung zu tragen. Das könnte die Wirksamkeit der Richtlinie in der Praxis erschweren. 

Kalifornien ist federführend

Das als AB 5 bekannte kalifornische Gesetz ist vermutlich das stärkste unter den drei Rechtsakten und könnte am leichtesten durchzusetzen sein. AB 5 schreibt eine strenge, dreistufige „ABC-Prüfung“ vor, mit der Beschwerden wegen falscher Einstufung des Beschäftigungsstatus zu untersuchen sind. Bei der ABC-Prüfung gilt die Vermutung, dass alle Arbeitnehmer*innen abhängig beschäftigt sind (mit Ausnahme bestimmter Berufe wie Ärzt*innen, Zahnärzt*innen, Psycholog*innen, Rechtsanwält*innen, Buchhalter*innen, Immobilienmakler*innen und einiger weiterer Berufe). Die Beweislast liegt beim Arbeitgeber, der nachweisen muss, dass der/die Arbeitnehmer*in einen selbständigen Beschäftigungsstatus hat. Dazu muss der Arbeitgeber nachweisen und dokumentieren, dass der/die Arbeitnehmer*in alle drei Kriterien der ABC-Prüfung erfüllt:

  • Der/die Arbeitnehmer*in untersteht keiner Kontrolle und ist bei der Erbringung der Dienstleistungen nicht weisungsgebunden; und
  • Der/die Arbeitnehmer*in führt Arbeiten aus, die außerhalb der normalen Geschäftstätigkeit des beauftragenden Unternehmens angesiedelt sind; und
  • Der/die Arbeitnehmer*in übt für gewöhnlich einen selbständigen Beruf oder ein Handwerk aus oder betreibt ein selbständiges Gewerbe.

Die dreistufige Prüfung hat die Regeln zur Feststellung des selbständigen Beschäftigungsstatus deutlich vereinfacht und geklärt. Seit der Verabschiedung von AB 5 ist die Zahl der Klagen wegen Falscheinstufung des Beschäftigungsstatus in Kalifornien stetig gestiegen und Arbeitsrechtsexperten gehen davon aus, dass dieser Trend anhalten wird. Arbeitnehmer*innen, die ihrer Meinung nach falsch eingestuft wurden, können jetzt in Kalifornien bei einer staatlichen Stelle, dem California Labor Commissioner Beschwerde einreichen. Sie können zudem auch klagen und Schadensersatz vom Arbeitgeber für nichtgezahlte Entgelte, nichtvergütete Überstunden, nichtvergütete Essens- und Ruhepausen sowie Bußgelder und Zinsen verlangen.

Uber, Lyft und DoorDash initiierten in Kalifornien eine erfolgreiche Volksabstimmung, um Taxi- und Essenslieferfahrer*innen vom Geltungsbereich des Gesetzes auszunehmen.

Bei einer vorsätzlichen Falscheinstufung von Arbeitnehmer*innen drohen Arbeitgebern zivilrechtliche Strafen von 5.000–15.000 Dollar pro Verstoß. Einige der jüngsten Vergleiche überstiegen einen Wert von 100 Millionen Dollar. In Kalifornien hat dieser kriterienbasierte Ansatz zur Feststellung des Beschäftigungsstatus zu Klagen von Arbeitnehmer*innen geführt, die ihre Rechte gerichtlich geltend machen. 

Das AB 5 wurde jedoch teilweise untergraben, als Uber, Lyft und DoorDash in Kalifornien eine erfolgreiche Volksabstimmung initiierten, die ihnen 200 Millionen Dollar wert war, um Taxi- und Essenslieferfahrer*innen vom Geltungsbereich des Gesetzes auszunehmen. Der Oberste Gerichtshof von Kalifornien wird in Kürze entscheiden, ob dieses Gesetz als verfassungswidrig eingestuft wird (ich berichtete im August 2021 für das Mitbestimmungsportal über diese Volksbefragung mit dem Titel „Proposition 22“).

Biden-Administration folgt dem kalifornischen Beispiel

Die neue Verwaltungsvorschrift der Biden-Administration zur Ermittlung des (abhängigen oder selbständigen) Beschäftigungsstatus trat am 11. März in Kraft. Sie wurde stark vom kalifornischen Gesetz beeinflusst – tatsächlich stand Julie Su, die kommissarische Arbeitsministerin auf Bundesebene, zuletzt an der Spitze der kalifornischen Labor and Workforce Development Agency (Arbeits- und Beschäftigungsentwicklungsagentur mit dem Rang eines Ministeriums). Bidens Präsidialerlass setzte Bestimmungen außer Kraft, die Präsident Trump kurz vor Ende seiner Amtszeit 2021 beschlossen hatte und die es für Unternehmen deutlich erleichterten, Beschäftigte als Selbständige einzustufen.

Anstelle einer dreistufigen Prüfung sehen Bidens Vorschriften sechs Prüfkriterien vor, wie das Ausmaß der Kontrolle, die ein Unternehmen über eine/n Arbeitnehmer*in hat, die Dauer der Beschäftigung, der Umfang der erforderlichen Fähigkeiten und Eigeninitiative und die Frage, ob die ausgeführte Arbeit zum Kerngeschäft des Unternehmens gehört. Da die Bestimmungen noch so neu sind, ist die letztendliche Wirkung noch nicht einzuschätzen (und sollte Trump bei den Präsidentschaftswahlen im November 2024 Biden schlagen, werden sie sicher wieder aufgehoben). Blieben diese Bestimmungen einige Jahre lang in Kraft, wären sie wahrscheinlich wirksamer als das nach der Initiative „Proposition 22“ abgespeckte Gesetz AB 5 und würden zur Neueinstufung von Tausenden von Fahrer*innen von Uber, Lyft, DoorDash und vielen anderen Unternehmen führen. Würden diese als abhängig Beschäftigte anstatt als Selbständige eingestuft, hätten sie Anrecht auf Mindestlöhne und die Vergütung ihrer Überstunden.

Wenig überraschend rüstet sich die Geschäftswelt für die Bekämpfung dieser neuen Bundesvorschriften. Die US-amerikanische Handelskammer und unternehmerfreundliche Dachverbände wie die Coalition for Workforce Innovation (der Technologie- und Verkehrsriesen wie Uber und Lyft angehören) wehren sich gegen diese neuen Bestimmungen und haben mindestens fünf Klagen eingereicht, um die Durchsetzung aufzuhalten.

Die undefinierte Richtlinie der EU

Im Vergleich zu den beiden US-amerikanischen Rechtsakten könnte die EU-Plattformrichtlinie womöglich schwächeln, weil sie wenig konkret ist. Ein Streitpunkt während der monatelangen Trilog-Verhandlungen zwischen den EU-Institutionen und den Vertretungen der 27 Mitgliedstaaten war die Vermutung eines Beschäftigungsverhältnisses bei Plattformarbeit. Der ursprüngliche Entwurf enthielt fünf Indikatoren, ähnlich wie die Rechtsvorschriften des Bundesstaats Kalifornien und der Biden-Administration. Aber unter dem intensiven Druck der Unternehmer- und Plattformlobbys sowie Frankreichs und Deutschlands wurden die fünf Kriterien vollständig gestrichen. Stattdessen ist es nun den 27 Mitgliedstaten überlassen, eigene Kriterien festzulegen. Das Ziel der Richtlinie ist ein „Mindestmaß an Vereinheitlichung“ in der EU, da sie jetzt nur noch festlegt, dass Plattformarbeitnehmer*innen als abhängig beschäftigt gelten, wenn nach einzelstaatlichem Recht, Tarifverträgen oder EU-Rechtsprechung „Tatsachen auf eine Kontrolle und Steuerung hindeuten“.

Die deutsche Ampelkoalition, die von der FDP mit ihrer orthodox wirtschaftsliberalen Politik gelähmt wird, verweigerte ihre Zustimmung zum kriterienbasierten Ansatz. Deshalb enthielt sich die Bundesregierung bei der Abstimmung auf EU-Ebene. Frankreich stimmte als einziger Mitgliedstaat auf Beharren von Staatspräsident Emmanuel Macron gegen die Richtlinie (das deutsch-französische Tandem spielte auch bei der Verwässerung des zuletzt beschlossenen EU-Gesetzes über künstliche Intelligenz, das KI-Gesetz, eine wichtige Rolle).

Unternehmen werden zweifelsohne versuchen, die Mitgliedstaaten gegeneinander auszuspielen und Schlupflöcher zu schaffen

Auch wenn die Richtlinie vorschreibt, dass alle Mitgliedstaaten zumindest eine begrenzte Vermutung eines Beschäftigungsverhältnisses als Ausgangspunkt nehmen müssen, wird sich die den Mitgliedstaaten gewährte Flexibilität vermutlich als „Giftpille“ erweisen, die sich negativ auf alle Mitgliedstaaten auswirken wird. Angesichts der großen Mittel, die Plattformunternehmen wie Lieferando, Bolt und andere für die Lobbyarbeit zur Verfügung haben, besteht ein echtes Risiko, dass die Richtlinie bei der Umsetzung in einzelstaatliches Recht verwässert wird und in verschiedenen Mitgliedstaaten unterschiedliche Standards gelten werden.

Unternehmen werden zweifelsohne versuchen, die Mitgliedstaaten gegeneinander auszuspielen und Schlupflöcher zu schaffen, die nicht jeder Mitgliedstaat schließen wird. So könnte die Richtlinie ein gesetzliches Sammelsurium innerhalb der EU und eine Abwärtsspirale anstatt einer einheitlichen Vorgehensweise der Mitgliedstaaten zur Ermittlung falscheingestufter Beschäftigungsverhältnisse schaffen. Ein belgisches Gesetz zur Plattformarbeit hat tatsächlich große Ähnlichkeit mit der EU-Richtlinie und enthält z. B. keine spezifischen Umsetzungsmaßnamen. Die belgischen Gewerkschaften haben keine Handhabe, um gegen die Plattformen vorzugehen, wenn sie sich über geltendes Recht hinwegsetzen. Mehr als ein Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes wurde noch kein Plattformbeschäftigter als abhängig beschäftigt eingestuft. Der Richtlinienentwurf des spanischen Ratsvorsitzes sah solche Mechanismen vor – zum Beispiel, dass die Behörden Plattformunternehmen inspizieren sollten, bei denen Arbeitnehmer*innen als Selbstständige eingestuft wurden. Aber diese Mechanismen wurden nicht in den endgültigen Text aufgenommen. Der EU-Richtlinie fehlt es also an eindeutigen Umsetzungsvorgaben.
 
Ein positiver Aspekt der Richtlinie ist, dass sie den Einsatz von KI und algorithmischem Management für prekäre Plattformbeschäftigte sinnvoll einschränkt. Arbeitnehmer*innen, wie die Fahrer*innen von Essenlieferdiensten, Amazon, Uber und anderen, erhalten ihre Aufträge über algorithmisch aufgebaute Apps anstelle eines menschlichen Disponenten und auch ihre Leistung wird so überwacht. Die neue Richtlinie setzt Grenzen und erhöht die Transparenz, indem sie die Verarbeitung biometrischer personenbezogener Daten einschränkt, aus denen persönliche Merkmale wie ethnische Zugehörigkeit, Migrationsstatus, psychologische Gesundheit, Religion und andere abgeleitet werden könnten. Wichtige Entscheidungen zur Vergütung, Kündigung oder Sperrung von Accounts müssen außerdem immer von einem Menschen getroffen werden. Es ist außerdem vorgesehen, dass Plattformbeschäftigte Zugang zu Kommunikationskanälen haben müssen, um sich untereinander auszutauschen (die Biden-Regierung beschloss im Oktober 2023 per Präsidialerlass ähnliche Bundesvorschriften zur KI am Arbeitsplatz).

Dennoch sind viele Gewerkschaftsführer und Politiker unzufrieden mit dieser verwässerten Richtline. Die Tatsache, dass es jedem Mitgliedstaat obliegt, seine eigenen Kriterien festzulegen, „führt zu Kleinteiligkeit und fehlender Rechtssicherheit für Plattformen, die in verschiedenen Mitgliedstaaten tätig sind“, sagt die bulgarische Arbeitsministerin Ivanka Shalapatova. Der luxemburgische Arbeitsminister Georges Mischo stimmt ihr zu und ergänzt, dass sein Land europaweite Kriterien bevorzugt hätte, um Unternehmen am Rosinenpicken zu hindern, da sie sich unter den Mitgliedstaaten die für ihre Geschäftsinteressen günstigsten Einstufungskriterien aussuchen können.

Selbst Bitkom, der Branchenverband der deutschen ITK-Branche, kritisierte die Änderungen. In einer Erklärung verkündete Bitkom: „Die Folge wird wie so oft ein Flickenteppich nationaler Regelungen sein, der neue Rechtsunsicherheit für alle Beteiligten schafft. Plattformarbeit muss in Europa einheitlich geregelt werden, damit der Binnenmarkt nicht durch nationale Gesetzgebung fragmentiert wird.“

Gewerkschaften begrüßen die Einigung bei der Plattformrichtlinie

Die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft ver.di sagte in einer Erklärung: „Die Plattformrichtlinie bringt echte Verbesserungen und stärkt auch Solo-Selbständige“, denn sie wird nach Auffassung von ver.di die „Beweislastumkehr“ für eine Neueinstufung bewirken. Die Richtlinie wird „auch für mehr Transparenz sorgen und neue Rechte bezüglich des algorithmischen Managements einführen.“ 

Nachdem das Gesetzesvorhaben im Februar schon fast gescheitert war, scheinen viele Verfechter*innen von Arbeitnehmerrechten sich getreu der Devise „besser als nichts“ mit der Richtlinie zufriedenzugeben und sie als ausbaufähigen Ausgangspunkt zu betrachten. Es könnte auch sein, dass die positive Einschätzung von ver.di zumindest teilweise den im Juni anstehenden Europawahlen geschuldet ist, da ver.di außerdem lobt, dass „die Europäische Union auch für die Arbeitswelt einen echten Mehrwert bringt“ und „viele Menschen [aufruft], zur Wahl zu gehen und ihr Kreuz bei den Parteien [zu] machen, die die Interessen der Beschäftigten im Blick haben“.

Die Europäische Transportarbeiter-Föderation (ETF) äußerte sich etwas zurückhaltender zur Plattformrichtlinie. Die ETF bezeichnete sie als „einen Schritt nach vorn“, auch wenn der Text „bei weitem nicht so stark ist, wie wir es uns gewünscht hätten“, da er keine „allgemeine Beschäftigungsvermutung oder streng harmonisierte Kriterien auf EU-Ebene“ vorsieht. Die ETF gab insbesondere Frankreich die Schuld für die Abschwächung der Richtlinie. Allerdings lobte sie die Aufnahme von „starken gewerkschaftlichen Rechten zur Vertretung von Plattformbeschäftigten und zur Einleitung von Neueinstufungsverfahren“.

Die EU-Plattformrichtlinie könnte sich als Schritt in die richtige Richtung erweisen, aber nur, wenn sie lediglich der Ausgangspunkt eines weiterreichenden Prozesses ist.

Es wird weitere zwei Jahre dauern, bis die Plattformrichtlinie in allen Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt sein wird, und noch länger, bis sich herausgestellt haben wird, welche Mitgliedstaaten die Richtlinie wirksam umsetzen und in welchen sie durch den Einfluss der Industrie unterminiert wurde. Jeder Mitgliedstaat kann sozusagen als Laboratorium für die anderen fungieren, um zu sehen, was funktioniert.

Es ist wichtig, dass Gewerkschaften und andere arbeitnehmerfreundliche Akteure – sowohl auf nationaler wie auch koordiniert auf EU-Ebene – den Umsetzungsprozess kritisch verfolgen. Gewerkschaften sollten ihre Einflussmöglichkeiten nutzen, um zu verhindern, dass die großen Plattformunternehmen die Gesetzgebung verwässern und die Mitgliedstaaten gegeneinander ausspielen.

Die EU-Plattformrichtlinie könnte sich als Schritt in die richtige Richtung erweisen, aber nur, wenn sie lediglich der Ausgangspunkt eines weiterreichenden Prozesses ist. Es steht viel auf dem Spiel und die EU und USA werden hoffentlich von ihren gegenseitigen Erfahrungen lernen und gemeinsam einen transatlantischen Weg zu den richtigen Regulierungen finden, die die Rechte der Beschäftigten wirksam schützen und ein hartes Durchgreifen gegen Scheinselbstständigkeit ermöglichen.